Berlinerinnen, die mit Licht und Schatten spielten

Berlinerinnen, die mit Licht und Schatten spielten

[Anmerkung: Der folgende Essay wurde am 28. Mai 2025 unter der oben zitierten Schlagzeile als Gastbeitrag in der „taz. die tageszeitung“ publiziert - in der gedruckten Ausgabe und zugleich online. Der hier nachzulesende Wortlaut entspricht der im Internet erschienenen Textversion, lediglich die begleitenden Fotos wurden mit Blick auf die Bildrechte neu ausgewählt.]

Viele Fotostudios wurden in den 1920er Jahren von Frauen geführt. Fotografinnen wie Else Neuländer setzten den Kurfürstendamm & Co. in ein neues Licht.

Von Nicolas Basse


Sie gestalteten alles neu: Motivanordnungen und Bildaufteilungen, Blickwinkel und Belichtungen und das Studio als Raum für nahezu ikonografische Innovationen. Sie lehnten sich zudem gegen überkommene soziale Rollenzuweisungen für Frauen auf, schufen experimentelle bildliche Vorstellungen von emanzipierter Weiblichkeit. Und das Berlin der 1920er Jahre liebte ihre Kunst mit der Kamera.

Susanne Byk, Frieda Riess, Else Neuländer und Marta Vietz waren Pionierinnen der Fotografie. Der Kurfürstendamm wurde ihr Eldorado. Die wohl bekannteste Straße der Stadt war immer vieles: Prachtboulevard und Partylocation, Lebensader und Lustmeile, Sehnsuchtsort und Szenelaufsteg – auch und gerade vor 100 Jahren. Dass damals hier und in den Seitenstraßen das Herz der Fotografie im Deutschen Reich schlug, ist heute allerdings eher unbekannt.


Das Berlin der „Goldenen Zwanziger“ lebte mit sich selbst in tiefstem Kontrast. Der Weg zur Weltstadt verlief rasant, jedoch mit sozialen Verwerfungen. Eleganz bestimmte die Abendgesellschaften am Kurfürstendamm – und Elend den Alltag am Alexanderplatz. Josephine Baker eroberte tanzend die Stadt. Das Publikum im Nelson-Theater bejubelte ihre erotischen Shows. „Berlin, das ist schon toll! Ein Triumphzug“, so die als „Schwarze Venus“ gefeierte Künstlerin.

Das Leben in den Mietskasernen, Hinterhöfen und Seitengassen hingegen war bitter. Glanz und Abglanz einer Stadt: Kinos, Cafés, Varietés mit funkelnden Leuchtreklamen in Charlottenburg. Baracken, Suppenküchen, Obdachlosenheime mit verfallenden Mauern im Wedding.

Weltwirtschaftskrise traf Berlin mit voller Wucht
Die „Flapper Girls“ mit Bubikopf, Zigarettenspitze und Cocktail waren kennzeichnend für die Nachtclubs am Hardenbergplatz – und unterernährte Jugendliche mit leerem Blick und verschlissenen Lumpen für den Kinderstrich in der Friedrichstraße. „Metropolis“ feierte Premiere, 1927 im Ufa-Palast am Zoo. Der Film von Fritz Lang wirkt wie ein Spiegel dieser Spannungen. Publikum fand er kaum. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf schließlich auch Berlin mit voller Wucht.

Susanne Byk, Frieda Riess, Else Neuländer und Marta Vietz gestalteten den Glamour dieser wechselvollen Zeit mit, meisterten sie als selbstbewusste Unternehmerinnen. Berlin wurde bis 1930 zur Heimat von mehr als 400 Fotoateliers. Frauen führten rund ein Viertel dieser Studios, ihr Anteil in fotografischen Berufen war bemerkenswert hoch. Die Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert hatte die Voraussetzungen für ihr Streben nach beruflicher Selbstverwirklichung geschaffen. Aber auch die Restriktionen der Kaiserzeit waren eine Ursache für die große Zahl an Fotografinnen.

Die ersten 18 Studentinnen an der Königlichen Akademischen Hochschule für die Bildenden Künste in Berlin wurden zum Sommersemester 1919 aufgenommen – im ersten Jahr der Weimarer Republik. Frauen im Studium waren zuvor eine absolute Ausnahme, allgemeinen Zugang zu Universitäten erhielten sie in Preußen erst 1908 – gegen harten, männlichen Widerstand.

Der Traum, etwa die Malerei als Beruf auszuüben, hatte sich zuvor vor allem an privaten Kunstschulen, im Kontakt mit Malerinnen oder durch autodidaktisches Talent erfüllt. Für Frauen ließ sich die Hoffnung auf ein Leben als Künstlerin häufig jedoch nicht verwirklichen. Was blieb, waren Ehe, Haushalt und Mutterschaft. Viele hatten sich damit abgefunden, oft in einer unzufriedenen Stille. Andere hatten sich abseits der Hochschulen mit neuen Ideen in der Kunst verwirklicht, etwa durch eine Ausbildung zur Fotografin.

Zwei Starfotografinnen
Die 1884 geborene Susanne Byk und die sechs Jahre jüngere Frieda Riess nahmen dieses Wagnis in jungen Jahren auf sich. Sie gründeten ihre Ateliers bereits 1911 beziehungsweise 1917 mit 27 Jahren und arbeiteten in den 20er Jahren am Kurfürstendamm in gegenüberliegenden Häusern: Byk in der Nr. 230, Riess in der Nr. 14/15. Die Karstadt-Filiale beziehungsweise der Bürokomplex „Gloria Berlin“ an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche befinden sich heute dort, wo beide zu Starfotografinnen wurden.


Die Persönlichkeiten, die sie porträtierten, waren oder wurden prominent: Valeska Gert, Alice Salomon, Max Liebermann und Albert Einstein von Byk, Josephine Baker, Margo Lion, Marc Chagall und Max Schmeling von Riess. „Die Riess“, wie sie genannt wurde, war zudem eine vornehme Gastgeberin, ihr Atelier ein exklusiver Salon. Die High Society verkehrte bei ihr: Literatinnen und Literaten, Schauspielerinnen und Schauspieler und das Berlin der Politik, der Diplomatie, der Wirtschaft.

Die Zahl der avantgardistischen Fotografinnen stieg stetig. Die zur Jahrhundertwende geborene Else Neuländer eröffnete 1925 ihr Atelier. Bekannter als ihr bürgerlicher Name wurde das Pseudonym, unter dem sie Berühmtheit erlangte: Yva wurde eine der innovativsten Porträt- und Modefotografinnen der 20er Jahre, bestach durch synoptische Bilder, die sie unter anderem mit Mehrfachbelichtung aufnahm. Die Bleibtreustraße 17 war ab 1930 der Standort ihres Ateliers, das sie 1934 in die Schlüterstraße 45 verlegte – jeweils in Sichtweite des Kurfürstendamms.

„Selbstmord in Spiritus“: Das Eigenbildnis von 1927 verdeutlichte schon durch seine Betitelung, dass auch die 26-jährige Marta Vietz mit Konventionen der Fotografie gerne brach – zum Beispiel, indem sie ihr Haupt auf dem besagten Bild per Fotomontage in ein Laborglas hineinversetzte. Standort ihres Studios war in den frühen 30er Jahren die Meinekestraße 22, nur etwa 150 Meter vom Kurfürstendamm entfernt.

Licht und Schatten
Die Frauen spielten mit Licht und Schatten, begriffen Fotografie nicht nur als abbildende, sondern auch als bildende Kunst. Die Bilder, die sie schufen, bestimmen unsere Vorstellung der 20er Jahre noch heute. Der Zerfall der Weimarer Republik jedoch führte zu einschneidenden Veränderungen. Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus wurde für die Frauen konkret: Byk, Riess und Yva entstammten jüdischen Familien. Astfalck-Vietz wiederum ging in den Widerstand gegen die Nazis.

Susanne Byk verkaufte 1938 ihr Atelier nach antijüdischen Anfeindungen zu einem sogenannten „Arisierungspreis“. Sie flüchtete mit ihrem Ehemann Hellmuth Falkenfeld in demselben Jahr nach New York, wo sie 1943 verstarb.

Frieda Riess ging 1932 nach Paris – aus Liebe zu Pierre de Margerie, der von 1922 bis 1931 als französischer Botschafter im Deutschen Reich fungiert hatte. Sie überlebte die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, da sie ihre jüdische Familiengeschichte verbarg, und verstarb 1954 in der neuen Heimat.

Yva wurde 1938 von den Nazis mit einem Berufsverbot belegt und mit Zwangsarbeit als Röntgenassistentin gepeinigt. Sie wurde mit ihrem Ehemann Alfred Simon deportiert. Beide wurden im Juni 1942 im deutsch besetzten Polen als KZ-Gefangene ermordet.

Mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet
Marta Astfalck-Vietz ließ Flugschriften gegen das NS-Regime in ihrer Dunkelkammer kopieren, verhalf jüdischen Mitmenschen zur Flucht und betreute deren Kinder als Lehrerin. Sie erweiterte ihr pädagogisches Wirken nach der NS-Zeit, gründete die „Behindertenwerkstätten Mosaik“ und wurde dafür 1982 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1994 verstarb auch sie.

Für Yva und Alfred Simon wurden vor der Schlüterstraße 45 Stolpersteine verlegt. Der Yva-Bogen führt zudem als Fußweg von der Kantstraße in die Jebensstraße am Bahnhof Zoologischer Garten – und damit auch zur „Helmut Newton Foundation“. Newton, 1920 geboren als Helmut Neustädter, war ab 1936 von Yva ausgebildet worden – für ihn „der Olymp“, wie er berichtete.


Das Wirken der anderen Frauen dagegen ist im Straßenbild nicht dokumentiert. Weder an den einstigen Standorten der Studios von Byk, Riess und Astfalck-Vietz finden sich Gedenktafeln noch dort, wo weitere Fotografinnen wirkten – etwa Lilli Baruch (Kurfürstendamm 201), Steffi Brandl (Kurfürstendamm 211), Margarete Karplus (Pariser Straße 27 bzw. Hektorstraße 4) oder die Jacobi-Schwestern Lotte und Ruth.

Und auch die Bedeutung des Kurfürstendamms als Zentrum der Fotografie ist eine kilometerlange Leerstelle der Erinnerungskultur geblieben.

Literatur
Abebe, Miryam:
Archivgeschichte #5: Yva – Else Ernestine Neuländer-Simon, Portrait für das Online-Magazin „sichtbar.art“, online erschienen am 29. Mai 2023.
Albus, Volker und Honnef, Klaus (Hgg.):
Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870 – 1970, Köln 1997.
Baumann, Susanne und Eskildsen, Ute (Hgg.):
Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik, Düsseldorf 1994.
Beckers, Marion / Moortgart, Elisabeth (Hgg.):
Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon 1918 – 1932 in Berlin, Berlin 2008.
Beckers, Marion / Moortgart, Elisabeth:
Yva – Photographien 1925 – 1938, Berlin 2001.
Betancourt Nuñez, Gabriele und Graeve Ingelmann, Inka (Hgg.):
Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen, München 2008.
Böker, Carmen:
Die Circe vom Kurfürstendamm, in: ‚Berliner Zeitung‘, online erschienen am 9. Juni 2008.
Brückner, Kai:
Byk, Suse, in: Meißner, Günter (Hg.): Allgemeines Künstlerlexikon – Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 15, München / Leipzig 1996, S. 417.
Buchholz, Elke Linda:
Polaroids in der Helmut-Newton-Stiftung - Jedes Bild ein Unikat, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 23. März 2025.
Cichosch, Katharina:
Porträts mit Erkenntnis – Rüsselsheim würdigt die avantgardistischen Werke von Frieda Riess und Yva, in: ‚Jüdische Allgemeine‘, online erschienen am 4. April 2023.
Frecot, Janos (Hg.):
Astfalck-Vietz, Marta: Photographien 1922 – 1935, Berlin 1991.
Ganitta, Cornelia:
Der Frauen-Mann, in: ‚Jüdische Allgemeine‘, online erschienen am 21. Juli 2020.
Komander, Gerhild K. M.:
Yva, Portrait mit Zeittafel auf der Website des „Vereins für die Geschichte Berlins e. V.“, online erschienen im November 2004.
Kuhlmann, Christiane:
Bewegter Körper – Mechanischer Apparat. Zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 1920er Jahren an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi, Frankfurt / Main 2003.
Newton,Helmut:
Autobiographie, München 2002 (1. Auflage der deutschsprachigen Ausgabe).
Peschke, Marc:
Ausstellung: Die Macht der Bilder, in: ‚Jüdische Allgemeine‘, online erschienen am 7. August 2017.
Peschke, Marc:
Wiederentdeckt: Die Fotografin Frieda Riess, in: ‚photoscala‘, online erschienen am 11. Juli 2008.
Rissmann, Joachim (Hg. unter Mitarbeit von Beckers, Marion und Moortgart, Elisabeth
): Yva – Else Neulaender, Berlin 2009.
Rodewald, Theresa:
Kulturerbe erzählt: Die deutsch-jüdische Fotografin Yva, Portrait im Blog der Website der „Deutschen Digitalen Bibliothek“, online erschienen am 7. Oktober 2021.
Schröder, Christian:
Modefotografie: Welt aus Samt und Seide, in: ‚Tagesspiegel‘,online erschienen am 4. Juni 2001.
Schulz, Bernhard:
Fotografie der 20er und 30er Jahre: Die Grenze zwischen„Sachlichkeit“ und „Propaganda“ lässt sich schwer ziehen, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 27. Juli 2021.
Stöckmann, Jochen:
120. Geburtstag von Marta Astfalck-Vietz – Fotografin mit präzisem Gefühl für Raum und Bewegung, Portrait auf der Website des ‚Deutschlandfunks‘, online erschienen am 21. Juli 2021.
Thönnissen, Grit:
Modefotografie: Der Blick der Frauen, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 30. Mai 2022.
Weinig, Kirsten (Hg.):
Marta Astfalck-Vietz – Fotografien der 20er Jahre, Unterlüß 1995.

Quellen auf Websites
Website
https://blha.brandenburg.de/blha/de/ des „Brandenburgischen Landeshauptarchivs“: Eintrag zu den Akten über Else Neuländer-Simon und Alfred Simon.
Website
https://hundredheroines.org des „Hundred Heroines Museum“ (Nailsworth / Gloucestershire): Eintrag zu Yva.
Website
https://yvaarchiv.de/yva/ des „Yva Archivs“.
Website
www.ancestry.de (Plattform zur Ahnenforschung) zur Einsicht in die Geburts- und Sterbeurkunde von Susanne Byk.
Website
www.dasverborgenemuseum.de des „Verborgenen Museums“ (Berlin): Einträge zu Yva und zu Frieda Riess.
Website
www.deutschefotothek.de der „Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden“: Eintrag zu Susanne Byk.
Website
www.exilarchiv.de der „Else Lasker-Schüler-Gesellschaft“: Eintrag zu Yva.
Website
www.jmberlin.de des „Jüdischen Museums Berlin“: Eintrag zu Yva.
Website
www.opelvillen.de der „Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim“: Eintrag zur Ausstellung „Frieda Riess und Yva – Fotografien 1919 – 1937 (19. Februar 2023 bis 4. Juni 2023)“.
Website
www.stolpersteine-berlin.de: Einträge zu den Stolpersteinen für Else Neuländer-Simon und für Alfred Simon.

[Anmerkung: Die hier aufgeführten Literatur- und Quellenangaben waren
nicht Bestandteil der Publikation in der ‚taz. die tageszeitung‘.]

„Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“ - Die Gefangenschaft von Emma Schwarz

„Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“ - Die Gefangenschaft von Emma Schwarz

Das Haus war sehr alt und seine ganz genaue Lage in Berlin in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts schon lange nicht mehr bekannt. Der Standort des einstigen SA-Gefängnisses Papestraße im Stadtteil Tempelhof konnte erst nach eingehender Suche ausfindig gemacht werden - und dies schließlich auch durch mehrere Hinweise aus der breiten Bevölkerung.


Ich blicke (unweit des zentral gelegenen Bahnhofs „Südkreuz“) zuerst auf den Hauseingang und dann insbesondere in den großen Kellerkomplex am Werner-Voß-Damm 54 a. Der heute hier beheimatete „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ dokumentiert mit einer Dauerausstellung seit dem Jahr 2013 eingehend die grauenhafte Geschichte dieses frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagers, das hier im Jahr 1933 bestand. Der Fall der damals hier gefangenen Emma Schwarz ist dabei einer von sehr, sehr vielen Belegen für die Tatsache, dass systematischer Naziterror sogar erfolgte, wenn nur wenige Worte fielen, die den so brutalen SA-Truppen nicht passen mochten.

Der Lebensweg von Emma Schwarz ist bis auf sehr wenige biographische Details unbekannt geblieben, wir kennen bspw. nicht einmal ihr Geburtsjahr und ihr Sterbejahr. Sie war offenbar Kommunistin und wurde im Juli 1933 von der SA im brandenburgischen Zerpenschleuse gefangengenommen, also in einer kleinen Gemeinde ca. 30 Kilometer nördlich von Bernau (bei Berlin). Der Grund für ihre dann folgende Verschleppung in das nahe gelegene KZ Oranienburg: Emma Schwarz hatte zuvor „Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“ gesagt.

Sie wurde aus dem KZ Oranienburg (in Brandenburg) sodann in das SA-Gefängnis Papestraße (in Berlin) deportiert - und am hauptstädtischen Gedenkort erinnern im einstigen Haftraum für Frauen ein eigenes Exponat und ein kurzer, zusammenfassender Text an ihre Geschichte. Das Schreiben des Kommandanten des KZ Oranienburg vom 11. Juli 1933, in dem dieser die „Feldpolizei“ im SA-Gefängnis Papestraße um die Freilassung von Emma Schwarz bittet, ist erhalten geblieben.


Der Fall ist in seinen Einzelheiten kaum aufzuarbeiten. Die Gefangennahme von Emma Schwarz durch die SA ist im Exponat auf den 3. Juli 1933 und auf der begleitenden Texttafel auf den 1. Juli 1933 datiert worden. Wir wissen aber nicht, ob sie im damaligen Sommer bspw. nach einem spontanen Wortgefecht mit der SA gefangengenommen wurde - oder bspw. nach einer Denunziation, weil sie in früherer Zeit mit den zitierten Worten vom Kopf von Adolf Hitler gesprochen haben mochte. Sie hatte in jedem Fall einen ebenso markigen wie eindrucksvollen Satz gesagt, auf den die SA sodann mit roher Gewalt und besonders perfide antwortete.


Das geheim bestehende SA-Gefängnis in der General-Pape-Straße, die oft nur Papestraße genannt wurde, existierte von März bis Dezember 1933 und war ein frühes KZ. Die SA nutzte die Kelleretage ihres hier geschaffenen Standortes, um Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, andere politisch Verfolgte und auch jüdische Gefangene zu verhören, zu misshandeln, zu foltern. Die Zahl der Personen, die in das SA-Gefängnis Papestraße verschleppt wurden und dort unbeschreibliche Qualen erlitten, ist unbekannt, aber sehr hoch: Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass mindestens 500 Menschen in den Kellern der Papestraße gefangen waren, wobei die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher ist - für einen Zeitraum von lediglich knapp zehn Monaten. Das Grauen spielte sich unterirdisch ab - und nachgewiesen sind dabei auch systematische Vergewaltigungen an den hierher deportierten Frauen sowie insgesamt etwa 30 Morde der SA an diversen Gefangenen.


Foltermethoden, die durch die SA hier angewandt wurden, waren u. a. Auspeitschungen und Einsperrungen in einen zugenagelten Sarg über mehrere Stunden, Scheinerschießungen und stundenlanges Strammstehen sowie die Reinigung unmittelbar zuvor benutzter Klosetts mit der bloßen Hand - und zudem wurden Gefangenen gezielt ihre Fußsohlen angebrannt und Haare ausgerissen.

Die Frauen wurden in den Kellern der SA in einen eigenen Haftraum gesperrt - ohne Betten, ohne Liegen, ohne Decken. Der Raum wurde (wie alle anderen Keller) nicht beheizt und war lediglich mit etwas Stroh ausgelegt, die sanitäre Versorgung war unzureichend - und sogar miteinander zu sprechen, war strengstens verboten. Emma Schwarz war ebenfalls hier gefangen - und der bekannteste Name der hier gepeinigten Frauen wird vermutlich der von Martha Plenzdorf (* 1906, Sterbejahr unbekannt) sein, Parteimitglied der KPD und Mutter von Ulrich Plenzdorf (* 1934, † 2007),  also des Autors von „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1972). Jasmin Lörchner, Journalistin u. a. für „SPIEGEL Geschichte“ sowie Host des „HerStory“-Podcasts, und ich haben das einstige SA-Gefängnis Papestraße und insbesondere dessen Haftraum für Frauen im Sommer 2021 gemeinsam auf Twitter vorgestellt. Bianca Walther, Autorin des "Frauen von damals"-Blogs, berichtete danach ergänzend von der einst ebenfalls hier gefangenen Hertha Block, einer kommunistisch eingestellten Bibliothekarin.[Addendum, August 2023: Die entsprechenden beiden Threads, zu denen ich von meinem Text aus verlinkt habe, sind seit dem Sommer 2023 nicht mehr vorhanden, da sich beide Autorinnen damals von Twitter zurückgezogen haben. NB]

„Mein Arsch ist schlauer als der Kopf von Hitler“: Emma Schwarz war wegen dieser (vermeintlichen) Nichtigkeit in wenigen Worten einst deportiert worden - und ihr Satz und insbesondere seine unfassbaren Konsequenzen gingen mir nicht aus dem Kopf, als ich die einstigen Folterkeller verließ und ihre Umgebung zu besichtigen beschloss. Der Weg vom heutigen „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ etwa zum Bahnhof „Südkreuz“ führt an verschiedenen alten Industriebauten vorbei - und zur ersten Gedenktafel, die mit einem sehr allgemein gehaltenen Text an die Vergangenheit der dortigen Keller unter dem Naziterror erinnert: „Den Opfern des frühen Naziterrors 1933 in den Kellern der Kaserne General-Pape-Straße“.


Die Inschrift stammt aus dem Jahr 1981, also aus einer Zeit, in welcher der exakte Standort des einstigen SA-Gefängnisses nicht mehr bekannt war - und in der bspw. auch der Fall von Emma Schwarz noch nicht rekonstruiert gewesen sein wird.

Der Schatten aus nationalsozialistischer Zeit ist, nebenbei bemerkt, von dem Gebiet im Stadtteil Tempelhof bis heute nicht ganz getilgt: Der Werner-Voß-Damm, an dem sich der „Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße“ befindet, ist nach Werner Voß (* 1897, † 1917) benannt, einem deutschen Luftwaffenoffizier aus dem I. Weltkrieg. Die Straße erhielt im Jahr 1936 seinen Namen - ein vereinnahmender propagandistischer Akt über den jung gefallenen Jagdflieger durch die damals schon lange regierenden Nazis.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
von Götz, Irene: Früher Terror - Späte Erinnerung, Berlin 2013.

von Götz, Irene / Zwaka, Petra (Hgg.): SA-Gefängnis Papestraße - Ein frühes Konzentrationslager in Berlin, Berlin 2013.
Quellen auf Websites
Website www.gedenkort-papestrasse.de/start.html des „Gedenkortes SA-Gefängnis Papestraße“.

Pfiffe, Walter, Widerstand

Pfiffe, Walzer, Widerstand

[Anmerkung: Der folgende Essay wurde unter der oben zitierten Schlagzeile als Gastbeitrag in der „taz. die tageszeitung“ publiziert - in der gedruckten Ausgabe vom 20. Juni 2025 auf Seite 23 und am 19. Juni 2025 online. Der hier nachzulesende Wortlaut entspricht der im Internet erschienenen Textversion, lediglich die begleitenden Fotos wurden mit Blick auf die Bildrechte neu ausgewählt.]

Vor 150 Jahren wurde Salo Siegfried Translateur geboren. Sein „Sportpalastwalzer“ wurde zur Erkennungsmelodie des populären 6-Tage-Rennens. 

Von Nicolas Basse

Der sportliche Klassiker zog die Menschen in seinen Bann, Runde um Runde. Der musikalische Klassiker begleitete ihn, Umdrehung für Umdrehung. Das 6-Tage-Rennen war eine herausragende Großveranstaltung im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ – und ein Walzer wurde 1923 seine markante Erkennungsmelodie.

Der beliebteste deutsche Radsportwettkampf wurde 1909 in den Ausstellungshallen des Zoologischen Gartens ausgetragen und ab 1911 im „Sportpalast“ in Schöneberg. Das Rennen begeisterte die vornehme Gesellschaft ebenso wie die breite Bevölkerung. Weit bekannter als alle einstigen Sieger ist heute jedoch die Musik, die es untermalte: Der „Sportpalastwalzer“, dessen Name eigentlich ganz anders lautete und dessen Komponist vor 150 Jahren auf die Welt kam.


Salo Siegfried Translateur wurde am 19. Juni 1875 im oberschlesischen Carlsruhe geboren. Sein Weg führte früh zur Musik, für deren Studium er nach Breslau, Wien und Leipzig ging. 1909 ließ er sich in Berlin nieder – als Kapellmeister. Translateur dirigierte sein eigenes Orchester, hatte sein bekanntestes Werk aber bereits einige Jahre zuvor geschaffen – im Alter von 17 Jahren. 1892 hatte er Lebenslust und Leichtigkeit auf der bekanntesten österreichischen Festwiese in Takt und Tanz verewigt. Das „Wiener Praterleben“ wurde seine erfolgreichste Komposition, ein Walzer in kontinuierlichem Dreivierteltakt, mit einer Melodie voll von Sehnsucht, Sanftmut und galanten Zwischenspielen.

Das Stück wurde beliebt, auch außerhalb Wiens, und durch einen Kunstgriff: Translateur hatte zu Beginn der zweiten Walzersequenz in sein Werk ein vierfaches Händeklatschen aufgenommen. Dieses Signal wurde auf dem Wiener Prater genutzt, um einen „Vorzugstanz“ zum Preis von vier Kreuzern anzukündigen.

Musikgeschichte auf eigene Weise
1923 wurde der Walzer zum ersten Mal beim 6-Tage-Rennen in Berlin gespielt – und es schlug die Stunde von Reinhold Habisch, des leidenschaftlichsten Radsportfans der Reichshauptstadt. Habisch, geboren 1889, hatte in seiner Jugend den großen Traum einer eigenen Radsportlaufbahn aufgeben müssen: Die Sehnen seines linken Beins wurden beim Unfall mit einer Straßenbahn durchtrennt. Mit gerade einmal 16 Jahren war er fortan auf eine Gehhilfe angewiesen, die ihm jenen Spitznamen einbrachte, den er mit Humor trug: „Krücke“.

Die Liebe zum Radsport blieb. Habisch heizte als Possenreißer die Stimmung beim 6-Tage-Rennen an, am liebsten auf dem „Heuboden“, der preiswertesten Sitzplatzkategorie unter dem Hallendach des „Sportpalastes“. Musikgeschichte schrieb er auf eigene Weise: „Krücke“ ersetzte den Klatschrefrain des Walzers durch eins, zwei, drei, vier scharfe Pfiffe, die durch die Halle gellten – freudig und schnell als massenwirksames Markenzeichen der gesamten Veranstaltung, denn das Publikum tat es ihm bald gleich. Das „Wiener Praterleben“ wurde so zum „Sportpalastwalzer“ und einem festen Bestandteil des 6-Tage-Rennens. Translateur selbst berichtete: „Die ganze Galerie pfeift mit; ein Freund von mir hat einmal gezählt, dass der Walzer in einer halben Stunde achtmal gespielt wurde.“

Der Komponist hatte 1911 in Berlin seinen Musikverlag „Lyra“ gegründet, der ab 1933 als „Lyra Translateur & Co.“ firmierte – nach Beteiligung seines Sohnes Hans am Unternehmen. Der Naziterror jedoch traf ihn hart: Der „Sportpalastwalzer“ wurde vom NS-Regime bereits 1933 verboten. Der Künstler galt in der rassistischen Weltsicht der Nazis als „Halbjude“. Der Sohn Hans flüchtete 1933 nach Südafrika.

Berlin pfiff auf das Verbot des Tanzes – im wahrsten Wortsinne. 1934 wurde das vorerst letzte 6-Tage-Rennen ausgetragen. Das Orchester spielte den verfemten Walzer, das Publikum begleitete ihn in gewohnter Weise. Die Pfiffe gellten aber durch eine kaum ausgelastete Halle: Das NS-Regime hatte zum 1. Januar 1934 in das Regelwerk eingegriffen. Die Neuerungen schreckten viele internationale Radsportstars ebenso ab wie Besucherinnen und Besucher. Das Rennen durfte insbesondere nicht mehr rund um die Uhr gefahren werden, was ihm die Faszination nahm. Das Festival endete nach 25 Jahren in Berlin unter der Regelungswut der Nazis und in finanziellen Schwierigkeiten.

Komponist leidet unter dem Naziterror
Translateur litt indes unter dem immer stärker werdenden Naziterror. Der Komponist wurde 1937 aus der „Reichsmusikkammer“ des NS-Regimes verstoßen. Die Aufforderung zur Liquidation seines Verlages folgte – zumal dieser als „nicht-arische Firma“ bereits 1934 aus dem „Adreßbuch des Deutschen Buchhandels“ getilgt worden war. Der erzwungene Verkauf von „Lyra Translateur & Co.“ wurde am 31. Mai 1938 abgeschlossen.

Eine Spurensuche führt nach Wilmersdorf, wo seine Familie seit 1915 in der Güntzelstraße 15 wohnte. Meta und Salo Siegfried Translateur lebten hier bis zur Deportation im Frühjahr 1943 in das Ghetto Theresienstadt. Joseph Goebbels hatte im Februar desselben Jahres im „Sportpalast“ zum „totalen Krieg“ aufgerufen. Die Propaganda der Nazis übertönte nach der Niederlage von Stalingrad mit lautstarkem Hass die Erinnerung an den einst hier gespielten Walzer. Der Komponist war von den Nazis zudem mit Zwangsarbeit gepeinigt worden.

Stolpersteine vor der Güntzelstraße 15 bezeugen seit dem Herbst 2024 den letzten Weg der Eheleute Translateur. Die Tatsache aber, dass deren Leben auch mit einem anderen Haus in Wilmersdorf verbunden war, ist unsichtbar geblieben. Hans Dünnebeil, geboren 1883, führte in der Bayerischen Straße 12 seinen Musikverlag „Afas“. Der Unternehmer ging gegen das NS-Regime in den Widerstand. Dünnebeil unterstützte mehrere verfolgte Mitmenschen, unter ihnen das Ehepaar Translateur, das er jedoch nicht zu retten vermochte.


Der Verleger verstarb 1961 und wurde posthum in der Initiative der „Unbesungenen Helden“ anerkannt. Dieses Programm bestand von 1958 bis 1966. Der Senat von West-Berlin zeichnete mit ihm mehr als 750 Personen aus, die sich den Nazis widersetzt hatten – insbesondere durch Hilfe für Jüdinnen und Juden. Die Taten von Hans Dünnebeil sind im Straßenbild nie dokumentiert worden, in der Bayerischen Straße 12 findet sich keine Gedenktafel zu seinen Ehren.

Translateurs Ende war bitter
Das Ende der Eheleute Translateur war bitter: 1944 fielen beide im Ghetto Theresienstadt dem Holocaust zum Opfer – Salo Siegfried am 1. März, Meta am 20. Dezember.

Der „Sportpalastwalzer“ lebte nach dem Ende des NS-Regimes wieder auf – ebenso wie das 6-Tage-Rennen, das in Berlin ab 1949 erneut ausgetragen wurde. Das Werk von Translateur wurde wieder die melodische Begleitung des Wettkampfes, der aber nicht mehr den Glanz der „Goldenen Zwanziger“ auszustrahlen vermochte. 1964 verstarb auch Reinhold „Krücke“ Habisch.

Der „Sportpalast“ wich im Herbst 1973 der Abrissbirne. An seinem Standort wurde eine mehrgeschossige Wohnanlage erbaut, im damaligen West-Berlin als „Sozialpalast“ bezeichnet. Der Schatten dieses gewaltigen Betonbaus fällt inzwischen auf ein Mahnmal zu Ehren von Salo Siegfried Translateur: „Ewiger Anklang“ heißt der Erinnerungsort in der Pallasstraße, der 2023 kreiert wurde – 100 Jahre, nachdem beim 6-Tage-Rennen zum ersten Mal sein bedeutendster Walzer gespielt worden war.


Die Künstlerin Chelsea Leventhal schuf das Denkmal. Die Schritte eines Walzers führen auf abgebildeten Tanzschuhsohlen über Bodenplatten aus Beton. Die Spuren werden dabei immer blasser. Die Inschrift „Ewiger Anklang / Siegfried Translateur / 1875 – 1944“ wird von einem QR-Code ergänzt, der zu einer Audiokomposition über Weg und Werk des Künstlers führt. Die Gedenkstätte befindet sich dort, wo einst der Vorplatz des „Sportpalastes“ lag.

Die Einweihung des Klangdenkmals erfolgte im März 2024 – 80 Jahre nach dem Tod von Salo Siegfried Translateur. Seine Musik lebt weiter, insbesondere sein bekanntestes Werk, für das er im 19. Jahrhundert mit einem Honorar von 20 Reichsmark entlohnt worden war. Der Komponist wurde 1925 zu seinem 50. Geburtstag als „Meister der leichten Muse“ bezeichnet – ein Ehrentitel, der durch den „Sportpalastwalzer“ besonders deutlich wird.

Literatur
Aktenbestand des „Unbesungene Helden“-Programms des Senats von West-Berlin (1958 bis 1966), einsehbar im Landesarchiv Berlin.
Bertsch, Matthias:
Propaganda und Eisrevue, publiziert auf der Website des ‚Deutschlandfunks‘, online erschienen am 17. November 2010.
Göllner, Lutz:
Eine Liebeserklärung an die Berliner Originale, in: ‚tip.Berlin‘, online erschienen am 1. April 2020.
Fetthauer, Sophie:
Siegfried Translateur, in: Maurer Zenck, Claudia und Petersen, Peter (Hgg.): Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (‚LexM‘), Hamburg 2006, online einsehbar auf der Website der „Universität Hamburg“.
Kulke, Ulli:
Reinhold Habisch – Der Mann, der den Sechstage-Pfiff erfand, in: ‚Berliner Morgenpost‘, online erschienen am 27. Januar 2024.
Morat, Daniel:
Sport und Vergnügungskultur – Der Sportpalastwalzer (Wiener Praterleben), publiziert in der Rubrik „Geschichte“ der Website der „Bundeszentrale der politischen Bildung“, online erschienen am 3. August 2016.
Ohmann, Oliver:
Der Mann, der unseren Sixdays den Pfiff verpasste, in: ‚BZ – Die Stimme Berlins‘, online erschienen am 28. Januar 2024.
Riffel, Dennis:
Unbesungene Helden - Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.

Quellen aus dem Rundfunk
Bienert, Magdalena: Komponist Siegfried Translateur mit Klangkunst-Denkmal geehrt, Feature im ‚rbb 24 Inforadio‘, ausgestrahlt am 12. März 2024.
Klein, Franziska:
Ein Walzer mit vier Pfiffen, Feature im ‚BR KLASSIK‘, ausgestrahlt am 1. März 2023.

Quellen auf Websites
Website
https://ewiger-anklang.de/ des gleichnamigen Mahnmals in Erinnerung an Siegfried Translateur, geschaffen von Leventhal, Chelsea.
Website
www.berlin.de der Stadt und des Landes Berlin: Einträge zum Mahnmal „Ewiger Anklang“ in Erinnerung an Siegried Translateur und zu Berliner Originalen, darunter Reinhold „Krücke“ Habisch.
Website
www.gedenktafeln-in-berlin.de der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“, des „Aktiven Museums – Faschismus und Widerstand in Berlin e. V.“ und von Hübner, Holger: Eintrag zum Mahnmal „EwigerAnklang“ in Erinnerung an Siegfried Translateur.
Website
www.rundel.de des „Musikverlags RUNDEL GmbH“: Eintrag zu Siegfried Translateur.

[Anmerkung: Die hier aufgeführten Literatur- und Quellenangaben waren
nicht Bestandteil der Publikation in der ‚taz. die tageszeitung‘.]

Einbrecher, KZ-Gefangener, Polizeichef, Hochstapler: Das unglaubliche Leben des Manfred Bastubbe

Einbrecher, KZ-Gefangener, Polizeichef, Hochstapler: Das unglaubliche Leben des Manfred Bastubbe

[Anmerkung: Der folgende Essay wurde am 29. März 2025 unter der oben zitierten Schlagzeile als Gastbeitrag im „Tagesspiegel“ publiziert - in der gedruckten Ausgabe auf Seite B 8 - 9 und online als „Paid Content“. Der hier nachzulesende Wortlaut entspricht der online erschienenen Textversion, lediglich die begleitenden Fotos wurden mit Blick auf die Bildrechte neu ausgewählt.]

Manfred Bastubbe begeht zahlreiche Straftaten, sitzt als „Berufsverbrecher“ im KZ. Unter falschem Namen wird er 1945 Polizeichef. Doch er fliegt auf. Über das bewegte Leben eines Rastlosen.

Von Nicolas Basse

Das US-Militär vertraute ihm. Im Frühling 1945 kam Dr. Alfred Dreßler nach Delitzsch. Die Stadt in Sachsen wurde am 20. April von US-Truppen besetzt, der Ort ergab sich ohne Gefecht. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war nah. Die Amerikaner strebten nach Recht und Ordnung – in Delitzsch mit Dreßler. Er hatte sich als Arzt vorgestellt, war 35 Jahre alt. Er trat einnehmend auf. Kontakte zu US-Offizieren gestaltete er mit Geschick. Sie setzten ihn als Chef ihrer Polizei vor Ort ein. Ihr Nachrichtendienst fahndete nach verdächtigen Deutschen. US-Truppen nahmen NSDAP-Mitglieder und mögliche Kriegsverbrecher fest. Dreßler half zu ermitteln.

Der Mann war zielstrebig. Die Frau an seiner Seite hieß Ilona Auer. Das Paar hatte am 24. April 1945 in Delitzsch geheiratet. Dreßler organisierte zudem eine Gedenkfeier. Sie galt der Erinnerung an KZ-Gefangene. Sie waren unter den Nazis auf einem Marsch durch die Stadt umgekommen. Dreßlers Auftreten warf jedoch Fragen auf. Er hatte nie zuvor in Delitzsch gelebt. Wer war der allen unbekannte Arzt? Woher stammte er? Wer war seine Ehefrau? Antworten führten zu Zweifeln. Die Vermutung wurde laut, er sei ein Hochstapler.

Der Verdacht traf zu. Der vermeintliche Dr. Alfred Dreßler hatte alle getäuscht. Manfred Bastubbe lautete sein wahrer Name. Der Polizeichef war kein Mediziner. Er hatte auch keinen Doktortitel, aber eine bewegte Vergangenheit. Die Nazis hatten ihn als „Berufsverbrecher“ gejagt. US-Truppen hatten ihn im April 1945 aus dem KZ Mittelbau-Dora in Thüringen befreit. Er war dann nach Sachsen gegangen – mit Ilona Auer. Sie war erst 17 Jahre alt und ungarische Jüdin, gefangen in demselben Lager.

Der falsche Arzt wurde vom US-Militär als Polizeichef abgesetzt. Dies geschah im Juni 1945. Delitzsch wurde im folgenden Monat an die Rote Armee übergeben. Der Ort stand fortan unter sowjetischer Verwaltung. Bastubbe machte sich davon – wie so oft.

Von Hongkong nach Berlin - und in die Unterwelt
Das Leben von Manfred Bastubbe wirkt wie ein Episodenroman. Denn so schilderte er es nach 1945. Fakten sind wenige belegt. Hongkong war seine Geburtsstadt. 1910 kam er zur Welt. Der Vater war Handelsvertreter, zuvor wohl Marineoffizier. Bastubbe berichtete, dass er früh starb. Wilhelmine Anna Hedwig Bastubbe, seine Mutter, ging als Witwe mit ihm nach Berlin – noch vor dem Ersten Weltkrieg. Sie arbeitete als Krankenschwester. Es waren Jahre des Umbruchs: Kaiserzeit, Kriegsende, Ausrufung der Republik.

Die vermeintlich „Goldenen Zwanziger“ begannen. Berlin pulsierte, wurde Weltstadt. Kunst und Kultur waren im Aufbruch. Die Politik erlebte Krisen. Eleganz bestimmte die Partys am Kurfürstendamm – und Elend den Alltag am Alexanderplatz. Luxus herrschte in den Villen am Grunewald – und tiefe Not in den Arbeitervierteln. Berlin, Rausch und Elend: Cafés, Varietés, Theater mit funkelnden Fassaden – Baracken, Armenküchen, Obdachlosenheime mit brüchigen Mauern. Ab dem Ende der 20er Jahre kam es oft zu Straßenschlachten. Nazis gegen Kommunisten, Kommunisten gegen Nazis. Die Debatten im Reichstag waren feindselig. Die Weimarer Republik stand im Sturm.

Bastubbe schlug sich durch, geriet jung in die Unterwelt. Die Ringvereine herrschten hier – verschworene kriminelle Gemeinschaften. Ihr Werk war das organisierte Verbrechen: Raub, Betrug, Zwangsprostitution. Die Vereinsnamen waren klangvoll: „Apachenblut“, „Immertreu“, „Libelle“. Bastubbe bewegte sich beim Verein „Deutsche Kraft“. Er lernte, Schlösser zu knacken, wurde Einbrecher, erlebte minderjährig die erste Verhaftung. 1930 starb seine Mutter.

Gefängnis, Zuchthaus, KZ
Er beging weitere Straftaten. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Diebstahl, Hehlerei und Körperverletzung sind ab 1929 belegt. Bastubbe führte auch einen falschen Namen. Gefängnis folgte, dann drei Jahre Zuchthaus. 1936 wurde er entlassen. Die Nazis herrschten. Sie hatten auch die Ringvereine verboten.

Bastubbe lebte in der Langenscheidtstraße 9 in Schöneberg. 1930 hatte er geheiratet. Marianne Siega hieß seine erste Ehefrau. Sie wartete nach dem Zuchthaus auf ihn, nicht unbedingt sehnlich. Das Paar hatte einen Sohn. Bastubbe war nicht für ihn da.


Das NS-„Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933 zielte auf mehrfach Straffällige ab. Wer in fünf Jahren dreimal zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde, galt als „Berufsverbrecher“ – wie Bastubbe. Die Polizei beschattete ihn. Die Nazis gingen brutal vor. 2000 „Berufsverbrecher“ wurden im März 1937 im Deutschen Reich verhaftet. Bastubbe war einer von ihnen. Der Weg führte diesmal ins KZ. Er wurde am 9. März 1937 nach Sachsenhausen verschleppt.

Bastubbe überlebte weitere Konzentrationslager: Börgermoor, Neuengamme, dessen Außenlager Hamburg-Langenhorn, schließlich Mittelbau-Dora. Die Gefangenschaft bedeutete Folter, Gewalt unter Mitgefangenen, Zwangsarbeit. Zweimal flüchtete er. Zweimal wurde er gefasst. Als Ausbrecher beging er Diebstähle. 1943 wurde er zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung blieb aus.

Ein Neuanfang nach 1945 gelang nicht. Bastubbe berichtete, er sei mit Ilona Auer nach Budapest gegangen. Er verließ seine Ehefrau bald. Er blieb ein Getriebener, ging wohl nach Wien, heiratete wieder, wurde Vater einer Tochter. In Deutschland verkaufte er Pharma-Produkte – unter falschem Namen. Gefängnis folgte erneut: 1949 in der DDR für Wirtschaftsdelikte, 1951 in West-Berlin für Diebstahl. Wieder in Freiheit, beging er Urkundenfälschung, Erpressung, stahl weiter. Beute „vertickte“ er in der Waitzstraße am S-Bahnhof Charlottenburg. Urteil im Prozess von 1953: Sechs Jahre Haft.

Ein „Gentleman-Einbrecher“?
Die Presse berichtete. Der „Tagesspiegel“ nannte ihn im Herbst 1953 einen „Gentleman-Einbrecher“. Raubzüge mit geringer Beute bestritt er: „Ich mache doch keinen Einbruch für ein Paar Schuhe.“ Ein Gentleman? Wohl eher eine blendende Selbstinszenierung. Bastubbe sprach in Haft oft mit der Presse. Die „Neue Illustrierte“ brachte seine Geschichte. Der Journalist Wolfgang Heinrich hörte Bastubbe in dessen Zelle zu, schrieb ein Buch. Das Werk erschien 1956. Der Titel: „Frauen waren mein Verhängnis“ – eine verzerrte Eigenwahrnehmung. Bastubbe saß weiterhin ein: JVA Tegel, JVA Moabit.


Die Haft endete 1959. Bastubbe lebte bis 1963 in Spandau, blieb am Rande der Gesellschaft. Anträge auf Entschädigung für seine NS-Haft wurden abgelehnt. 1967 verließ er Deutschland. Er wurde britischer Staatsbürger, lebte weiterhin nicht sesshaft, sondern bereiste die Welt. Handelsvertreter war sein Beruf. London war sein letzter Wohnort.

Manfred Bastubbe lebte rastlos. Vielleicht war er immer auch auf der Suche nach sich selbst. Ob er jemals zu sich fand? Er starb am 31. Dezember 1976.

Über den Autor: Nicolas Basse ist Historiker und bloggt unter www.blackundmieze.de über die unbekannten Seiten von Berlin in der NS-Zeit.

[Hinweis von Nicolas Basse, im „Tagesspiegel“ nicht publiziert: Der herzliche Dank des Autors gilt Dr. Ulrich Baumann und Oliver Gaida von der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Der Vorschlag für den Artikel stammte von ihnen. Sie waren als Kuratoren der Ausstellung „Die Verleugneten“ eingehend mit Manfred Bastubbe befasst - und ohne ihre Forschung wäre der Essay nicht möglich gewesen.]

Treuchtlinger Straße - Die Schattenseite einer Namensgebung

Treuchtlinger Straße - Die Schattenseite einer Namensgebung

Die „Ewige Flamme“, die im Jahr 1955 auf ihm entfacht wurde, trug sehr wesentlich dazu bei, dass er auch außerhalb der Stadtgrenzen des damaligen West-Berlin bekannt wurde. Der heute so traditionsreiche Theodor-Heuss-Platz, der in den 50er Jahren (wieder) Reichskanzlerplatz hieß, spiegelt im Stadtteil Westend von Berlin die deutsche Zeitgeschichte auf vielfache Weise. Das Mahnmal der „Ewigen Flamme“ zum Gedenken an die Opfer von Flucht und Vertreibung wurde einst von Bundespräsident Theodor Heuss (* 1884, † 1963) eingeweiht, weckte seitdem viele Erinnerungen und verursachte zudem wiederholt politische Diskussionen in den folgenden Jahrzehnten.

Reichskanzlerplatz - Adolf-Hitler-Platz - Reichskanzlerplatz - Theodor-Heuss-Platz
Das sehr prachtvolle und zuerst noch unbebaute Areal wurde von 1904 bis 1908 angelegt, zeitgleich also zum Kaiserdamm, der schließlich direkt von Charlottenburg aus auf den neuentstandenen Platz führte. Reichskanzlerplatz hieß er, nachdem er fertiggestellt worden war - und diesen Namen trug er dann 25 Jahre lang. Der Blick auf einen alten Stadtplan aus der Zeit des NS-Regimes jedoch ist besonders wichtig und zeugt von einer einschneidenden Maßnahme, die mit der Geschichte des Platzes ebenfalls verbunden ist. Das Areal wurde am 21. April 1933 zu Ehren von Adolf Hitler bekanntlich in Adolf-Hitler-Platz umbenannt - genau einen Tag, nachdem er 44 Jahre alt geworden war und knapp drei Monate, nachdem er zum Reichskanzler ernannt worden war.

Das NS-Regime griff seit dem Jahr 1933 auch und gerade in Berlin mit gezielten propagandistischen Neu- und Umbenennungen vieler öffentlicher Straßen tief in den Stadtplan, vor allem aber in das Alltagsleben der damaligen Reichshauptstadt ein - und dass der lange Schatten aus der NS-Zeit stellenweise noch heute auf der Stadt und auf seinen Straßen liegt, zeigt sich weitab vom gerade beschriebenen Theodor-Heuss-Platz in Westend beispielsweise im Bayerischen Viertel im Stadtteil Schöneberg.

Salomon Haberland und die Tilgung seines Familien- und Straßennamens
Ich stehe in der Mitte des Gehwegs der Haberlandstraße, die nur einen kurzen Fußweg von etwa drei Minuten in nördlicher Richtung vom Bayerischen Platz entfernt liegt. Die Straße verbindet die Aschaffenburger Straße und die Landshuter Straße miteinander, die beide direkt auf den Bayerischen Platz zulaufen, wenn man ihnen in südlicher Richtung folgt - und zudem wurde die Straße einst nach Salomon Haberland (geb. 1836, gest. 1914) benannt, dem jüdischen Begründer des Bayerischen Viertels.


Die Namensgebung erfolgte im Jahr 1906 aus einem sehr feierlichen Anlass: Salomon Haberland wurde damals 70 Jahre alt - und ihn, den alteingesessenen und sehr erfolgreichen Textilunternehmer, mit einer eigenen Straße zu ehren, war eine ebenso naheliegende wie liebevolle Initiative, um den Namen und das Ansehen des hochbetagten Jubilars schon zu Lebzeiten zu verewigen. Die nach ihm benannte Straße, in „seinem“ Stadtteil sehr zentral gelegen, bestand aus einem nördlichen Teil und aus einem südlichen Teil, die seit dem Jahr 1906 gemeinsam als eine Straße galten, obwohl sie beinahe rechtwinklig zueinander standen. Der Blick auf einen Stadtplan aus alter Zeit verdeutlicht, dass ein solch ungewöhnlicher Straßenverlauf allenfalls sehr, sehr selten (oder nie) vorkam - in ganz Berlin und in ganz Schöneberg, einer bis zum Jahr 1920 noch kreisfreien Stadt. Die gleichsam zweigeteilte bzw. sich gabelnde Haberlandstraße trug ihren ehrenvollen Namen danach für mehr als drei Jahrzehnte bzw. noch in den ersten Jahren des NS-Regimes - bis zu einer radikalen Zwangsmaßnahme unter Wilhelm Frick (* 1877, † 1946), der bereits seit dem 30. Januar 1933 als Reichsinnenminister fungierte. Straßen, die namentlich Jüdinnen und Juden oder so genannten „jüdischen Mischlingen ersten Grades“ gewidmet waren, mussten im gesamten Deutschen Reich „unverzüglich“ umbenannt werden, wie es im entsprechenden Runderlass des nationalsozialistischen Reichsinnenministeriums vom 27. Juli 1938 formuliert war. 

Dies geschah deshalb auch im Bayerischen Viertel, dieser so traditionsreichen Ortslage mit einem überdurchschnittlich hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Der Name der zweigeteilt verlaufenden Haberlandstraße wurde umgehend von den Straßenschildern und aus den Stadtplänen entfernt. Sie hieß fortan Nördlinger Straße (Südteil) bzw. Treuchtlinger Straße (Nordteil). Die (durchaus klangvollen) neuen Namen waren mit Nördlingen und mit Treuchtlingen einer bayerischen Stadt bzw. einer fränkischen Stadt gewidmet, die beide in den letzten Jahren des 9. Jahrhunderts n. Chr. zum ersten Male urkundlich erwähnt worden waren. Die schnell umgesetzte, neue Straßenbeschilderung mochte sich eher unauffällig in das Bayerische Viertel einfügen, aber: Zwangsmaßnahme blieb Zwangsmaßnahme, Namenstilgung blieb Namenstilgung - und sie hatte (auch) hier, wie geschildert, einen eindeutig antisemitischen Beweggrund. Die Unruhe vor allem unter den vielen Jüdinnen und Juden, die seit jeher im Bayerischen Viertel lebten, ist leicht vorstellbar - zumal durch den rassistischen Runderlass aus dem Sommer 1938 nun zwangsweise angeordnet wurde, was vielerorts im gesamten Deutschen Reich bereits in den vorangegangenen Jahren wieder und wieder geschehen war. Straßennamen, die an Jüdinnen und Juden erinnerten, waren unter dem Naziterror bereits in hoher Zahl dauerhaft getilgt worden.

Die lange zuvor gehegte Hoffnung, das Gedenken an Salomon Haberland direkt im Bayerischen Viertel zu bewahren und zu verewigen, war auf diese Weise vom NS-Regime vorerst zerschlagen worden. Die Namen der Nördlinger Straße und der Treuchtlinger Straße blieben auch nach der NS-Zeit unverändert bestehen. Sie schienen bestens zu den Straßennamen der unmittelbar nahegelegenen Nachbarschaft zu passen, etwa zur Aschaffenburger Straße oder zur Landshuter Straße (s. o.). Die Straßenumbenennungen unter dem NS-Regime gerieten im Stadtteil Schöneberg nach und nach in Vergessenheit - und nichts deutete mehr darauf hin, dass die beiden kurzen Straßen, die an Nördlingen bzw. an Treuchtlingen erinnerten, seit dem Jahr 1906 mehr als 30 Jahre lang gemeinsam die Haberlandstraße gewesen waren.

„Stih & Schnock“ und die Wirkung einer Gedenktafel
Das „Orte des Erinnerns“-Mahnmal, das in den frühen 90er Jahren entstand, weckte schließlich alte Erinnerungen. Renata Stih und Frieder Schnock (bzw. „Stih & Schnock“, wie sie sich als künstlerisch engagiertes Ehepaar nennen), kreierten im Jahr 1992 insgesamt 80 Gedenktafeln, die im folgenden Jahr rund um den Bayerischen Platz angebracht wurden. Sie bezeugen mit kurzen Texten viele rassistische Gesetze und Verordnungen und Vorschriften, mit denen das NS-Regime die jüdische Bevölkerung seit dem Jahr 1933 nach und nach entrechtete - und eine der Gedenktafeln wurde damals an einer Straßenlaterne direkt am Kreuzungspunkt der Nördlinger Straße und der Treuchtlinger Straße eingeweiht. Die Inschrift auf der Vorderseite dieser Gedenktafel fasste seitdem das Geschehen in der NS-Zeit mit wenigen Worten mahnend zusammen: „Straßen, die Namen von Juden tragen, werden umbenannt. Die nach dem Gründer des bayerischen Viertels benannte Haberland Straße wurde in Treuchtlinger Straße und in Nördlinger Straße umbenannt (27. 7. 1938).“ Das Bild eines Straßenschildes, auf dem ‚Haberlandstraße‘ zu lesen ist, ergänzt auf der rückwärtigen Seite der Gedenktafel den soeben zitierten Text. 


Die stumme, aber sehr deutliche Mahnung zeigte zumindest teilweise Wirkung, denn die erneute Umbenennung der Nördlinger Straße bzw. des südlich gelegenen einstigen Straßenteils in Haberlandstraße erfolgte im Jahr 1996 - und damit keine drei Jahre, nachdem „Stih & Schnock“ mit der gerade beschriebenen Gedenktafel an die Geschichte des vorherigen Straßennamens erinnert hatten. Der Name der Treuchtlinger Straße bzw. des nördlich gelegenen einstigen Straßenteils jedoch blieb auch weiterhin bestehen: Die Straße, ein Bestandteil der alten Haberlandstraße, heißt noch heute Treuchtlinger Straße - und doch verbirgt sich hinter ihrer Geschichte weit mehr als nur eine Reminiszenz an die so traditionsreiche mittelfränkische Kleinstadt.


Die Tatsache, dass heute bereits seit langen Jahren wieder eine Haberlandstraße durch das Bayerische Viertel führt, ist besonders erfreulich - auch und gerade mit Blick auf die mehr als bewegte Vergangenheit des gesamten Stadtteils unter dem Naziterror. Die Frage jedoch bleibt, warum die Straße nicht vollständig (erneut) umbenannt wurde, ihren einstigen Namen also nur teilweise zurückerhielt - zumal der Grund dahinter bis heute die rassistische Weltanschauung des NS-Regimes ist. Der Name der Treuchtlinger Straße mutete nach dem Ende des NS-Regimes (inmitten des Bayerischen Viertels) in allen folgenden Jahrzehnten gewiss logisch an - und er wirkt auch heute logisch, wenn man durch die verwinkelten Straßen rund um den Bayerischen Platz spaziert. Die Straßenbenennung schmerzt jedoch, wenn man verinnerlicht, wie die Treuchtlinger Straße zu ihrem noch immer bestehenden Namen kam.

Hoffnung: Haberlandstraße oder Henochstraße
Gedankenspiele: Die Haberlandstraße verliefe, sofern auch die Treuchtlinger Straße ihren einstigen Namen zurückerhielte, erneut sich gabelnd - also eher wie eine Straßenabzweigung als eine Straße. Die Tatsache, dass dies ein in ganz Berlin wohl einzigartiger und sehr verwinkelter Straßenverlauf wäre, mag als Argument gegen eine vollständige erneute Umbenennung in Haberlandstraße angeführt werden. Die Stichhaltigkeit dieses Arguments wäre zugleich zu diskutieren, denn im Grundsatz spricht natürlich nichts gegen eine Umbenennung der Treuchtlinger Straße in Haberlandstraße. Die Notwendigkeit eines anderen Straßennamens ist ganz im Gegenteil sehr offensichtlich.

Die Geschichte der Treuchtlinger Straße ist allerdings auch in anderer Weise mit den zahllosen Grausamkeiten der NS-Zeit verbunden und verweist dadurch auf einen weiteren denkbaren (neuen) Straßennamen. Lilli Henoch, die beruflich als Turnlehrerin wirkte, lebte bis zum Herbst 1942 in der Treuchtlinger Straße 5 (die bis zum Sommer 1938 die Haberlandstraße 11 gewesen war). Sie war die wohl bekannteste Person, die aus der Treuchtlinger Straße deportiert und schließlich ermordet wurde. Der Naziterror traf mit Lilli Henoch einen jüdischen Sportstar bzw. eine einst besonders erfolgreiche Leichtathletin, die in den 20er Jahren mehrere deutsche Meistertitel errungen und zudem mehrere Weltrekorde erzielt hatte - und dies jeweils im Kugelstoßen und im Diskuswurf und im Sprint mit der 4 x 100-m-Staffel. Rahel Mendelsohn, ihre in zweiter Ehe verheiratete, schon betagte Mutter, und Max Henoch, ihr jüngerer Bruder, lebten gemeinsam mit der Sportlerin im Bayerischen Viertel - bis sie alle vom NS-Regime deportiert und ermordet wurden. Stolpersteine für alle drei Personen wurden bereits im Sommer 2008 vor der heutigen Treuchtlinger Straße 5 verlegt. Sie erinnern daran, dass Rahel Mendelsohn und Lilli Henoch im September 1942 nahe dem besetzten Riga erschossen wurden, während Max Henoch in das KZ Auschwitz deportiert und nach neuerlicher Verschleppung schließlich im KZ Buchenwald ermordet wurde.

Die Umbenennung der Treuchtlinger Straße ist eine große Hoffnung, die ich mit der Zukunft des Bayerischen Viertels verbinde - und sie sollte gegebenenfalls Henochstraße heißen, in bleibender Erinnerung an Lilli Henoch und ihre Familie. Berlin gedenkt der einstigen jüdischen Leichtathletin auf Weltklasseniveau u. a. mittels des gerade beschriebenen Stolpersteins und mittels des Lilli-Henoch-Sportplatzes im Stadtteil Kreuzberg zwischen der Ruine des einstigen Anhalter Bahnhofs und dem Tempodrom. Die Erinnerung an sie ließe sich jedoch mit einem ihr gewidmeten Straßennamen in sehr angemessener Weise erweitern, zumal Lilli Henoch nach dem Ende des NS-Regimes für lange Jahre in Vergessenheit geriet  - und zugleich würde mit einer Umbenennung der Treuchtlinger Straße in Henochstraße (endlich, endlich) das heute weithin vergessene, aber nach wie vor sichtbare Resultat einer antisemitischen Zwangsmaßnahme aus der NS-Zeit vollends zurückgenommen.

Stadtplan voll von braunen Flecken
Der Blick soll am Ende noch einmal in den Stadtteil Westend gehen: Das Areal am Kaiserdamm, das im Jahr 1933 in Adolf-Hitler-Platz umbenannt worden war, erhielt erst am 31. Juli 1947 (erneut) seinen einstigen Namen zurück und hieß fortan wieder Reichskanzlerplatz - bis es im Dezember 1963 nur wenige Tage nach dem Tod des einstigen Bundespräsidenten Theodor Heuss neu in Theodor-Heuss-Platz umbenannt wurde. Der Name ist bis heute geblieben und wird auch weiterhin bleiben. Die Bereinigung der vielen braunen Flecken, die auf dem Berliner Stadtplan in der NS-Zeit entstanden sind, ist jedoch in verschiedenen Kiezen bis heute ausgeblieben - und dies nicht nur im Bayerischen Viertel oder im Stadtteil Schöneberg, sondern in ganz Berlin.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur 
Hesselmann, Markus: Rückbenennen, aus Prinzip! Von Nazis umbenannte Straßen in Berlin, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 18. Oktober 2022.
Quellen auf Websites
Website www.berlin.de der Stadt und des Landes Berlin: Eintrag zum Mahnmal „Orte des Erinnerns".

Der Mann mit dem Besen: Das steckt hinter dem Foto der Reichspogromnacht in der „New York Times“

Der Mann mit dem Besen: Das steckt hinter dem Foto der Reichspogromnacht in der „New York Times“

[Anmerkung: Der folgende Essay wurde am 9. November 2024 unter der oben zitierten Schlagzeile als Gastbeitrag im „Tagesspiegel“ publiziert - in der gedruckten Ausgabe auf Seite B 6 und online als „Paid Content“. Der hier nachzulesende Wortlaut entspricht der online erschienenen Textversion, lediglich die begleitenden Fotos wurden mit Blick auf die Bildrechte verändert.]

Ein Foto vom Schrecken der Reichspogromnacht aus Berlin fand in die „New York Times“ ebenso Einzug wie in Schulbücher. Die Geschichte dahinter wurde erst Jahrzehnte später bekannt.

Von Nicolas Basse

Schon beim ersten Umblättern bot sich ein Bild des Schreckens. Die „New York Times“ veröffentlichte am 18. November 1938 drei Fotos aus Berlin. Sie wurden auf Seite 3 abgedruckt, unter der Titelseite. Die Bilder zeigten die zerstörten Schaufenster verwüsteter jüdischer Läden.

Die Aufnahmen stammten höchstwahrscheinlich vom 10. November 1938. Am 9. November hatten die Nazis den antijüdischen Hass zur Explosion gebracht – im gesamten Deutschen Reich. SA-Truppen und aufgeputschte Menschenmengen hatten Synagogen niedergebrannt, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, Jüdinnen und Juden gejagt und ermordet. 2023 nannte der Historiker Christoph Kreutzmüller den Tag treffend das „Datum der endgültigen Grenzüberschreitung“.

Der Exzess ging als Reichspogromnacht in die Geschichte ein. Lange Zeit war auch von „Reichskristallnacht“ die Rede, als wären nur ein paar Leuchter und Scheiben zu Bruch gegangen. Und tatsächlich entstanden Fotos nach dem 9. November 1938 vor allem von Aufräumarbeiten. Mehrere Aufnahmen kamen in die internationale Presse.

Eines der Bilder der „New York Times“ wurde sehr bekannt. Es zeigt einen dunkelhaarigen Mann, modisch gekleidet und mit einem Besen. Sein Blick ist gesenkt. Der Mann räumt an einem Laden auf. Er sieht mit hängenden Schultern auf die zerstörten Schaufenster. Sein Gesicht zeigt Entsetzen: Der Nazi-Terror war grauenhaft. Die Menschen hinter ihm blicken in weitere zerstörte Fenster. Hakenkreuzflaggen sind im Hintergrund an Fahnenstangen befestigt. Das Nazi-Symbol überragt den Gehweg. Es ist über dem aufräumenden Mann zu sehen.


Das Bild ist eindrucksvoll. Es diente oft der Veranschaulichung des Pogroms – in Schulbüchern, in der Forschungsliteratur, in Bildbänden und TV-Dokus. Gezeigt wurde und wird es oft jedoch ohne oder mit falscher Ortsangabe.

Erst spät wurde die Geschichte hinter dem Bild aufgeklärt. Ulrich Baumann von der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und sein Team leisteten diese Arbeit aus Anlass der Ausstellung „,Es brennt!‘ – Antijüdischer Terror im November 1938“. Sie wurde zum 70. Jahrestag des Pogroms im November 2008 in der Neuen Synagoge Berlin gezeigt.

Das Foto entstand am Hauptsitz des Unternehmens „S. Kaliski& Co“, gegründet 1903. Dies war der Bettenhandel des jüdischen Unternehmers Siegfried Kaliski. Die Adresse: Tauentzienstraße 7b. Heute firmiert dort, zwischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und KaDeWe an der Kreuzung mit der Nürnberger Straße, der deutsche „Flagship Store“ des japanischen Modeunternehmens „Uniqlo“.

Als „Baby-Basar“ stand „S. Kaliski & Co“ in Telefonbüchern der 1920er-Jahre. Neben Betten wurden Babyausstattung, Kinderwagen und Möbel verkauft. Der Erfolg nahm zu. Kaliski eröffnete mehrere Filialen. Der Jahresumsatz allein in der Tauentzienstraße lag in den frühen 30er-Jahren bei 700.000 Reichsmark – eine enorme Summe für die damalige Zeit.

Siegfried Kaliski, geboren 1858, starb 1937. Der Nazi-Terror hatte ihm zugesetzt. Mit seiner Ehefrau Charlotte lebte er am Kurfürstendamm 92 in Berlin-Halensee. Die Frau erbte seine Unternehmensanteile. Sohn Kurt leitete nun das Geschäft in der Tauentzienstraße. Die Familie fand den Laden am 10. November 1938 aber zerstört vor. Der antijüdische Hass hatte auch im Stadtzentrum getobt.

Ein unbekannter Augenzeuge aus Charlottenburg berichtete über die Nazis: „Die Nacht vom 9. zum 10. November und den 10. November 1938 kann niemand aus dem Gedächtnis löschen, der die entfesselte Unterwelt aus dem Abgrund steigen sah. Mit Knüppeln und langen Stangen, johlend und lachend, brachen sie auf dem Kurfürstendamm, in seinen Nebenstraßen und in der Tauentzienstraße in die Geschäfte, Büros und Wohnungen der jüdischen Einwohner ein.“

Das Foto der „New York Times“ entstand bei Tag. Unbekannt ist, wen es zeigt und wer es aufnahm. Der abgelichtete Mann befand sich auf dem Gehweg der Nürnberger Straße. Die Bildrechte gab die Zeitung mit „Associated Press“ an. Sitz dieser Nachrichtenagentur war ebenfalls New York. Die Bildunterschrift entstand also weit entfernt von Berlin.

Die „New York Times“ schrieb am 18. November 1938, das Foto zeige einen jüdischen Ladeninhaber („shop owner“). Abgebildet war aber ein Angestellter oder Auszubildender. Der Bericht einer Zeitzeugin von 1970 ist interessant. Marta Mierendorff schrieb damals, dass Gottfried Arno Salomon im Kaliski-Laden gearbeitet hatte. Der Mann war ihr Lebensgefährte. Sie schilderte: „Nach der Kristallnacht musste er die Scherben der zertrümmerten Schaufensterscheiben, umgeben von Gaffern, selbst auffegen.“ Ob Gottfried Arno Salomon auf dem Foto ist, konnte jedoch nicht geklärt werden. Fraglich blieb auch, ob er der Mann mit hellem Hut und hellem Mantel links im Hintergrund sein könnte.

Das Foto wurde am 20. November 1938 erneut abgedruckt. Dies geschah im „New York Times Magazine“, der Sonntagsbeilage der Zeitung. Die Bildunterschrift wies auf einen zerstörten jüdischen Laden hin.

Charlotte Kaliski und mehrere Angehörige konnten fliehen. Sie gelangten von Berlin nach Bremen. Ihr Weg führte ab dem 27. Januar 1939 mit dem Schiff in die USA. Die verarmte Witwe wurde am 2. Februar 1939 im Hafen von New York registriert. Sie blieb in Amerika. In Berlin wurde ihr Unternehmen von den Nazis aus dem Handelsregister gelöscht. Dies geschah am 16. Februar 1939.

Charlotte Kaliski gab nicht auf. 1953 wandte sie sich an das Entschädigungsamt in West-Berlin. Sie schickte der Behörde auch einen Ausschnitt aus dem „New York Times Magazine“ vom 20. November 1938. Ihr handschriftlicher Zusatz zum Foto des zerstörten Geschäftes: „This is one side of our store!“,übersetzt: „Dies ist eine Seite unseres Ladens!“

Das Entschädigungsverfahren zog sich über mehrere Jahre hin, das Vergleichsangebot des Amtes ging ihrer Familie erst nach Charlotte Kaliskis Tod zu. Mehr als 50 Jahre vergingen. Dann wertete Ulrich Baumann die Akten aus.

Die Geschichte des Fotos wurde im Berliner Straßenbild nie dokumentiert. Nichts erinnert in der Tauentzienstraße an den Kaliski-Laden. Nach dem Krieg wurde das Haus mehrfach umgebaut. Seine gegenwärtige Gestaltung mit Glasfassade bekam es 1999, im Jahr 2014 zog die „Uniqlo“-Filiale ein.

Die Struktur des Hauses ist geblieben. Die Schaufensterfronten liegen rechtwinklig zueinander. Sie erstrecken sich jeweils etwa 50 Meter in die Tauentzienstraße und die Nürnberger Straße. Der Ladeneingang ist an der Straßenecke. Dies war auch so, als hier das Geschäft der Kaliskis war. Eine Gedenkstele wäre wichtig. Ein guter Platz für sie wäre der Gehweg der Nürnberger Straße vor der „Uniqlo“-Filiale. Hier entstand das Bild der „New York Times“. Das Mahnmal sollte die Form des aufräumenden Mannes bekommen. Das Foto würde so an den Ort seines Ursprungs zurückkehren – im Gedenken an eine jüdische Familie unter dem Nazi-Terror.

Über den Autor: Nicolas Basse ist Historiker und bloggt unter www.blackundmieze.de über die
unbekannten Seiten von Berlin in der NS-Zeit.

Literatur
Fritsche, Jana / Kreutzmüller, Christoph:
Eine Topographie der Gewalt - Übergriffe auf Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich 1930-1938, in: ‚Zeitschrift für Geschichtswissenschaft‘, Jg. 2020 / Ausgabe 6, S. 493 - 517.
Greve, Swantje:
Marta Mierendorff und die Steinbildhauerwerkstätten Arno Breker GmbH in Wriezen / Oder, publiziert im Blog auf der Website des „Deutschen Historischen Museums“, online erschienen am 10. November 2021.
Kellerhoff, Sven-Felix:
Die Nacht, in der die Scheiben barsten, in: „WELT“, online erschienen am 7. November 2008.
Kreutzmüller, Christoph:
9. November 1938 - Das Datum der endgültigen Grenzüberschreitung, publiziert in der Rubrik „Geschichte“ der Website der „Bundeszentrale der politischen Bildung“, online erschienen am 4. November 2024.
Kreutzmüller,Christoph / Weigel, Bjoern:
Kristallnacht? Bilder der Novemberpogrome 1938 in Berlin, Berlin 2013.
Kühling, Gerd:
Fotografien der Novemberpogrome und die Geschichte eines jahrzehntelangen Irrtums, in: Aktives Museum - Faschismus und Widerstand in Berlin e. V. (Hg.): Mitgliederrundbrief Nr. 70 (Januar 2014), S. 6 - 9.
Mierendorff, Marta:
Das Terror-Regime der Gestapo in der Jüdischen Gemeinde Berlin, in: ‚Die Mahnung – Zentralorgan Demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgten-Organisationen‘,Ausgabe vom 1. Mai 1970, S. 12 und S. 16.
Nachama, Andreas / Neumärker, Uwe / Simon, Hermann:
„Es brennt!“ Antijüdischer Terrorim November 1938, Berlin 2008.

Quellen auf Websites
Website
https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/ref/membercenter/nytarchive.html, das Online-Archiv der „New York Times“.
Website
www.ancestry.de (Plattform zur Ahnenforschung) zur Einsicht in diverse Dokumente der Familie von Charlotte und Siegfried Kaliski.
Website
www.berlin.de der Stadt und des Landes Berlin für den anonymen Augenzeugenbericht über die Nacht des 9./ 10. November 1938 am Kurfürstendamm (vgl. Text).

[Anmerkung: Die hier aufgeführten Literatur- und Quellenangaben waren
nicht Bestandteil der Publikation im ‚Tagesspiegel‘.]

Karriere eines politischen Agitators - Der Lebensweg von Leopold Gutterer

Karriere eines politischen Agitators - Der Lebensweg von Leopold Gutterer

Der Mann blieb nach dem Ende des NS-Regimes vermutlich auch deshalb weithin unbekannt, weil seine Teilnahme an einer sehr wesentlichen Konferenz trotz schriftlicher Einladung nicht erfolgt war.

Der Brieftext war kurz: Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, lud am 8. Januar 1942 vom besetzten Prag aus führende Vertreter der NSDAP, der SS und mehrerer Reichsministerien zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück zum 20. Januar 1942“ nach Berlin ein. Der Besprechungsort war das (sehr edle) „Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD“, idyllisch und direkt am Großen Wannsee gelegen, d. h.: am südwestlichen Stadtrand der damaligen Reichshauptstadt und unweit von Potsdam. Das Besprechungsergebnis schon nach ca. eineinhalb Stunden war ein koordinierter Grundsatzplan zur „Endlösung“, also zur Deportation und zum Mord an der jüdischen Bevölkerung aus ganz Europa. Der 20. Januar 1942 ist das Datum der so genannten „Wannseekonferenz“, die diesen Namen allerdings erst in späterer Zeit bzw. nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reiches erhielt. Reinhard Heydrich war daran gelegen, durch die Besprechung seine führende Position im NS-Staat hinsichtlich der Deportationen anerkennen zu lassen - und mehrere wichtige Reichsministerien wurden durch die Konferenz in das weitere, detaillierte Vorgehen im (schon begonnenen) Massenmord an der jüdischen Bevölkerung einbezogen.


Die Villa, in der die beschriebenen Beratungen stattfanden, war von 1914 bis 1915 erbaut worden und diente seit dem Jahr 1940 als „Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD“. Sie wurde erst seit dem Sommer 1989 zu einer offiziellen Gedenkstätte der NS-Zeit und war zuvor im Jahr 1952 ein „Schullandheim“ im damaligen West-Berlin gewesen. Die Geschichte des Hauses und auch der (weite) Weg bis zur Entstehung der heute zu besichtigenden „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“ sind auf deren Website eingehend dokumentiert.

Der Gang durch die heutige Dauerausstellung in der Villa am Großen Wannsee ist von Raum zu Raum, von Exponat zu Exponat tief erschüttert - und auch vor einer Stellwand über die Strafverfolgung nach dem Ende des Naziterrors werden viele Besucherinnen und Besucher gewiss verstummt und entsetzt stehen: Die Konferenz fand unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich mit insgesamt 15 Teilnehmern statt, von denen sich jedoch vier nach dem Ende des NS-Regimes nicht einmal vor Gericht zu verantworten hatten. (Die Gerichtsurteile, die gegen andere Konferenzteilnehmer ergingen, waren zudem teilweise sehr, sehr milde.)

Die Tatsache, dass nicht alle eingeladenen Nationalsozialisten der Einladung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD nach Berlin gefolgt waren, ist im Zusammenhang mit der so genannten „Wannseekonferenz“ weniger bekannt - und da ich im „Black & Mieze“-Blog auf eher selten beachtete Seiten der NS-Zeit blicke, stelle ich hier den Lebensweg von Leopold Gutterer vor, der zum Zeitpunkt der „Wannseekonferenz“ als Staatssekretär des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) fungierte und dieses am 20. Januar 1942 am Konferenztisch hätte vertreten sollen. Leopold Gutterer, wie die anderen Teilnehmer von Reinhard Heydrich mit Schreiben vom 8. Januar 1942 eingeladen, sagte seine Besprechungsteilnahme jedoch aus Termingründen ab.


Wer aber war dieser sehr ranghohe Beamte des NS-Staates, welcher der von Reinhard Heydrich dringlich einberufenen „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ fernblieb? Leopold Gutterer, jeweils zeitweise Staatssekretär des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und Vizepräsident der Reichskulturkammer, war der NSDAP bereits im Jahr 1925 beigetreten - und seine politische Karriere verlief danach sehr steil.

NSDAP-Mitglied seit 1925, SS-Mitglied seit 1927: Leopold Gutterer, Nationalsozialist seit frühester Zeit
Der Lebensweg hatte einst in Baden-Baden begonnen, wo Leopold Gutterer am 25. April 1902 geboren worden war. Der Parteieintritt in die NSDAP erfolgte unmittelbar nach seinem Studium u. a. der Germanistik und der Theaterwissenschaft, von dem bis heute nicht feststeht, ob er es mit einem akademischen Abschluss beendete oder nicht. Leopold Gutterer wurde bereits im Jahr 1927 auch SS-Mitglied und verlegte in den folgenden Jahren mehrere von ihm gegründete nationalsozialistische Zeitschriften (und dabei u. a. den „Frankfurter Beobachter“), von denen jede einzelne ein so genanntes „Kampfblatt“ war, in dem gezielte Hetze betrieben wurde. Die so aggressive Propagandaarbeit für den erstarkenden Nationalsozialismus führte dazu, dass Leopold Gutterer zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt wurde - und dass er im Wahlkampf der NSDAP vor der Reichstagswahl vom 5. März 1933 die so genannten „Führerkundgebungen“ in Lippe zu organisieren hatte.

Die Berufung als Regierungsrat in das (neue) Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erging ebenfalls im März 1933 - und hier stieg Leopold Gutterer bis zum Staatssekretär auf und wurde für lange Zeit zu einem der engsten Vertrauten von Dr. Joseph Goebbels, der wiederum bereits seit dem Jahr 1933 als Reichspropagandaminister fungierte. Die Umsetzung der „Kennzeichnungspflicht für Juden“ durch den so genannten „Judenstern“ seit September 1941 war eine seiner wesentlichen Taten bzw. eine seiner Hauptaufgaben in der Amtszeit als Staatssekretär - und die entsprechende Polizeiverordnung vom 1. September 1941 trat am 19. September 1941 in Kraft.


Der Blick u. a. in „Wannseekonferenz - Der Weg zu ‚Endlösung‘“ (2016), ein bemerkenswert detailliertes Buch von Prof. Dr. Peter Longerich, gibt in dieser Hinsicht sehr umfassenden Aufschluss. Der Autor, seit langer Zeit einer der international anerkanntesten deutschen Experten zur Geschichte des Nationalsozialismus, beschreibt Leopold Gutterer darin vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Zwangsmaßnahme als einen entscheidenden „Scharfmacher“ in der „Judenpolitik“. Der Staatssekretär im RMVP forderte „Sofortmaßnahmen“ gegen die in der Reichshauptstadt lebende jüdische Bevölkerung wie etwa die Einweisung in Barackenlager bereits auf einer interministeriellen Sitzung am 15. August 1941 in Berlin. Die nicht „arbeitsfähigen“ Jüdinnen und Juden solle man „nach Rußland abkarren“ - und zudem seien besondere „Judenläden“ einzurichten, wie Leopold Gutterer in derselben Sitzung erklärte. Die „Grundvoraussetzung“ für diese Maßnahmen wiederum sei die feste und gut sichtbare Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung - und damit ein wesentlicher organisatorischer Schritt auf dem weiteren Weg der nationalsozialistischen „Judenpolitik“, dem Adolf Hitler nur wenige Tage danach zustimmte, als Dr. Joseph Goebbels ihn darauf angesprochen hatte.

Leopold Gutterer wirkte von 1941 bis 1944 als Staatssekretär im RMVP, bevor er - u. a. mehrfach in Schwarzmarkthandel verstrickt - innerhalb des NS-Staates für kurze Zeit als Vorstandsvorsitzender der Universum Film AG (Ufa) neu eingesetzt und schließlich zum Fronteinsatz im II. Weltkrieg einberufen wurde. Der Agitator der vorangegangenen Jahre, einst auch Mitglied der so genannten „Reichspropagandaleitung“ der NSDAP, trat als Unteroffizier in eine Panzerjägereinheit ein und kämpfte am Ende als einfacher Soldat (nahezu unerkannt) in der letzten Phase des II. Weltkrieges. Die Spur seines Lebensweges führte nach Kriegsende und nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft auf einen unterfränkischen Bauernhof bei Bad Kissingen.

Leopold Gutterer, der seinen Namen und sein vorheriges Leben verschwieg, hielt sich dort bis zum Herbst 1947 als einfacher Landarbeiter auf - bis er enttarnt, für kurze Zeit inhaftiert und dann vor Gericht gestellt wurde. 

Staatssekretär in der NS-Zeit, Kinobetreiber und Theaterdirektor in der jungen Bundesrepublik
Der Angeklagte wurde zu einer fünfjährigen Arbeitslager-Strafe verurteilt - wobei dieses Urteil bereits im Winter 1948 in eine einjährige Arbeitslager-Strafe umgewandelt wurde, einhergehend u. a. mit lebenslangem Pensionsentzug und der Abgabe von 80 Prozent des persönlichen Vermögens. Der einst so bedeutende Beamte des NS-Staates wurde dann zuerst Kinobetreiber, arbeitete ab Mitte der 50er Jahre als Geschäftsführer der „Aktualitäten-Lichtspiele“ in Düsseldorf - und in den 60er Jahren wirkte er als Direktor des Theaters Aachen. Leopold Gutterer verstarb schließlich am 27. Dezember 1996 - und dies ebenfalls in Aachen, nach einem langen Lebensabend und in greisem Alter.
Der Weg, den er in der NSDAP seit den 20er Jahren und im NS-Staat ab dem Jahr 1933 gegangen war, ist auch aus heutiger Sicht sehr bemerkenswert - ebenso wie sein Leben nach der NS-Zeit bzw. der juristische Umgang mit seiner Vergangenheit nach dem Jahr 1945.

Wir blicken zum Abschluss noch einmal auf den 20. Januar 1942: Die Geschichtsforschung hat nachgewiesen, dass Leopold Gutterer seine Besprechungsteilnahme an der „Wannseekonferenz“ absagte - ebenso wie Ulrich Greifelt, damals Leiter der Dienststelle des „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“, und wie Friedrich Wilhelm Krüger, damals „Höherer SS- und Polizeiführer Ost“. Josef Bühler vertrat den gleichfalls abwesenden Hans Frank, der als „Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete“ zur Konferenz eingeladen worden war. Franz Schlegelberger als kommissarischer Reichsjustizminister wiederum ließ sich von Roland Freisler vertreten, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium und danach im August 1942 zum Vorsitzenden des nationalsozialistischen Volksgerichtshofes ernannt - und ein biographisches Detail bleibt zu berichten: Leopold Gutterer überlebte sie alle. Dr. Gerhard Klopfer, der letzte der insgesamt 15 Nazis, die an der „Wannseekonferenz“ teilgenommen hatten, verstarb im Januar 1987 (und damit fast zehn Jahre vor Leopold Gutterer). Der Sterbeort war Ulm, wo er seit dem Jahr 1956 für lange Zeit berufstätig gewesen war - und zwar als Rechtsanwalt.


Die Todesanzeige seiner Familie in der „Südwest Presse“ geriet zum Skandal, der in der breiten Bevölkerung für kurze Zeit sehr aufmerksam verfolgt wurde: Dr. Gerhard Klopfer, der zum Zeitpunkt der „Wannseekonferenz“ die „Staatsrechtliche Abteilung III“ in der Parteikanzlei der NSDAP geleitet hatte, sei „nach einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einflußbereich waren“, verstorben, wie seine Familie mitteilen ließ.

Die letzte noch lebende Person, die der „Wannseekonferenz“ beigewohnt hatte, verstarb jedoch erst im Jahr 2010 - und es handelte sich dabei um die einzige Frau, die in der Besprechung mitgewirkt hatte. Ingeburg Werlemann, Sekretärin von Adolf Eichmann (und damit des Leiters des Referates IV B 4 „Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten“ im Reichssicherheitshauptamt (RSHA)), hatte am 20. Januar 1942 auf der Konferenz stenographiert und somit die entscheidenden Vorarbeiten für das Besprechungsprotokoll geleistet. Das (sehr umfassende) Protokolldokument wurde in der heute bekannten Schriftform von Adolf Eichmann und von Reinhard Heydrich miteinander besprochen und verfasst - und es ist heute als Faksimile in der NS-Gedenkstätte am Wannsee ausgestellt und nachzulesen, Seite für Seite

Die „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“ zu besuchen, ist in vielfacher Hinsicht tief beeindruckend - insbesondere mit Blick auf die strikt technokratische, gleichsam „aktendeckelige“ Sprache, die für die Besprechung (und für die gesamte nationalsozialistische „Judenpolitik“) sehr typisch war: Völkermord als Verwaltungsakt.


Ich empfehle zugleich, an diesem einstigen Tatort der Verbrechen des NS-Staates auch einmal an die so selten beachtete Geschichte von Leopold Gutterer zu denken - zumal sich in der (brillanten) Dauerausstellung bislang kein einziger Hinweis auf ihn und die anderen Nazis findet, die der „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ vom 20. Januar 1942 fernblieben, deren Lebenswege aber auch durch das Einladungsschreiben von Reinhard Heydrich zumindest mit der Vorgeschichte der „Wannseekonferenz“ verbunden sind.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Boelcke, Willi A.: Kriegspropaganda 1939-1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966.

Burchard, Amory: Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz - Neue Blicke auf Täter und Opfer, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 16. Januar 2020.

Gryglewski, Marcus: NS-Täterin auf der Wannseekonferenz - Eichmanns Sekretärin, in: ‚taz. die tageszeitung‘, online erschienen am 17. Januar 2020.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Hamburg 2016 (2. Auflage).

Longerich, Peter: Wannseekonferenz - Der Weg zur ‚Endlösung‘, München / Berlin 2016.

Rosemann, Mark: Die Wannsee-Konferenz - Wie die Bürokratie den Holocaust organisierte, München / Berlin 2002.
Quellen auf Websites
Benz, Wolfgang: Die Wannsee-Konferenz - Vor 65 Jahren (2006), publiziert auf der Website www.ghwk.de/de/ der „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“.

Klein, Peter: Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 (1996), publiziert auf der Website www.ghwk.de/de/ der „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“.

Website www.ghwk.de/de/ der „Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz“ zudem für zahlreiche Details der gesamten so genannten „Wannseekonferenz“.

Website www.munzinger.de der Munzinger-Archiv GmbH, Eintrag zu Leopold Gutterer.

Der Lohn: 3,10 Reichsmark und die Fahrtkosten - Der Verrat von Gertrud Waschke

Der Lohn: 3,10 Reichsmark und die Fahrtkosten - Der Verrat von Gertrud Waschke

Sie erlitt einen Schlaganfall, nachdem sie im Jahr 1946 erfahren hatte, was wenige Jahre zuvor durch ihre Denunziation am Ende geschehen war. Gertrud Waschke (* 1878, Sterbejahr unbekannt) hatte unter dem Naziterror das ihr unbekannte Ehepaar Hampel, Elise (* 1903, † 1943) und Otto (* 1897, † 1943), im Herbst 1942 bei der Polizei angezeigt. Die Eheleute, die im Stadtteil Wedding von Berlin gelebt hatten, waren am 27. September 1942, wie schon so oft, heimlich erneut mit handschriftlich geschriebenen Postkarten und Flugzetteln in der damaligen Reichshauptstadt unterwegs gewesen - diesmal in einem Kiez im Stadtteil Schöneberg und für eine neuerliche Widerstandsaktion. Die Verteilung ihrer Karten in der Eisenacher Straße hatte nahe dem pulsierenden Nollendorfplatz diesmal jedoch zum entscheidenden Wendepunkt geführt, der ihnen schließlich den Tod bringen sollte.


Verrat in der Eisenacher Straße 122
Elise und Otto Hampel waren - wieder einmal - von Haus zu Haus und von Hof zu Hof gegangen, ebenso wie an vielen anderen Tagen seit dem Herbst 1940. Sie hatten ihre Postkarten auch am 27. September 1942 in großer Zahl auf Treppenabsätzen abgelegt und in Briefkästen eingeworfen. Das Ehepaar war dabei erneut in aller Stille unterwegs gewesen, da seine kurzen Flugschriften mit deutlichen Worten zum Widerstand gegen das NS-Regime und zur Kriegsdienstverweigerung aufriefen - und nachdem die Hampels das mehrgeschossige Mietshaus in der Eisenacher Straße 122 betreten hatten, waren sie von einer hier lebenden Frau aus sehr aufmerksamen Augen beobachtet worden, als sie ihre Postkarten verteilten. Gertrud Waschke, deren Name in verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Publikationen auch als Gertrude Waschke überliefert ist, lebte als Witwe in dem besagten Haus - und sie soll, wie mehrere Quellen berichten, das Ehepaar auf seinem Weg durch die Eisenacher Straße schon zuvor verfolgt haben. Das Bild, das sich mit Blick auf die Ereignisse im Stadtteil Schöneberg aus der geschichtswissenschaftlichen Literatur ergibt, ist hinsichtlich mehrerer Details nicht ganz klar. Gertrud Waschke soll das Ehepaar Hampel schließlich entweder in der Eisenacher Straße 122 aufgehalten haben, bis dessen Personalien direkt vor Ort von der Polizei aufgenommen wurden, oder am folgenden Tag auf dem nächstgelegenen Polizeirevier angezeigt haben. Sie gab, wie eindeutig rekonstruiert worden ist, in jedem Fall die entscheidenden Hinweise, die zur Verhaftung des Ehepaars Hampel im Oktober 1942 führten. (Die Quellen nennen den 20. Oktober und den 27. Oktober als den Tag der Verhaftung, wobei nur ein Datum zutreffend sein kann, da gesichert nachgewiesen ist, dass beide Eheleute an demselben Tag festgenommen wurden - wahrscheinlich am 20. Oktober.)

Die Fahndung der Gestapo und der hauptstädtischen Polizei war zuvor seit September 1940 mehr als zwei Jahre lang ohne eindeutiges Ermittlungsergebnis verlaufen. Elise und Otto Hampel hatten ihre mehr als 200 Postkarten in diesem Zeitraum wieder und wieder, aber immer unbemerkt in verschiedenen Stadtteilen verteilt - zuerst im Wedding (wo das Ehepaar wohnte), danach aber auch in anderen hauptstädtischen Gegenden und dabei zuletzt in Schöneberg. Die von ihnen verteilten Postkarten und Flugzettel wurden von allen, die sie auffanden oder in ihren Briefkästen hatten, fast immer umgehend bei der Gestapo oder bei der hauptstädtischen Polizei abgegeben. Die Hampels jedoch hatten ihre Widerstandsaktionen zu jeder Zeit entschlossen fortgesetzt - bis sie auf Gertrud Waschke getroffen waren, die nach ihren Beobachtungen nicht zögerte, die Polizei einzuschalten. Die zuvor erfolglose Jagd, bei der sich mit Blick auf die immer wieder aufgefundenen Postkarten keine deutliche Spur ergeben hatte, fand durch den Verrat einer regimetreuen Bürgerin auf einmal ein sehr schnelles Ende.

Todesurteil und Mord mit dem Fallbeil
Elise und Otto Hampel wurden danach am 22. Januar 1943 vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt - in einem kurzen Prozess, bis zu dessen Urteilsspruch keine dreieinhalb Stunden vergingen. Gertrud Waschke erschien an diesem Tag als Zeugin und erhielt 3,10 Reichsmark für ihre Aussage vor Gericht - und auch die Fahrtkosten wurden ihr erstattet. Der Ausgang des Verfahrens jedoch blieb ihr auch nach dem Ende des NS-Regimes zuerst unbekannt.

Die Gnadengesuche, die das verurteilte Ehepaar in seiner Haftzeit schrieb, wurden abgelehnt - und am 8. April 1943 wurden Elise und Otto Hampel im Strafgefängnis Plötzensee im Stadtteil Charlottenburg von Berlin schließlich beide mit dem Fallbeil ermordet.

Die Geschichte ihres Widerstandes ist in der hauptstädtischen Gedenkkultur in viel späterer Zeit auf mehrfache Weise sichtbar geworden - und sie ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich beide ab dem Jahr 1933 gegenüber dem NS-Regime zumindest aufgeschlossen gezeigt hatten. Die Hampels, deren Ehe ohne Kinder blieb, gingen erst im Jahr 1940 in den Widerstand, nachdem der Bruder von Elise Hampel bzw. der Schwager von Otto Hampel als Wehrmachtssoldat an der Westfront gefallen war - nach dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auf Frankreich.


Mahnmale, eine Straßenbenennung - und zuvor Literaturgeschichte
Elise und Otto Hampel lebten in der Amsterdamer Straße 10. Das Haus, in dem sie einst wohnten, steht schon seit langer Zeit nicht mehr, aber an dem Neubau, der sich am Standort des einstigen Hauses befindet, erinnert bereits seit dem Jahr 1989 eine Gedenktafel an das widerständige Ehepaar. Der Fußweg, der etwa 500 Meter davon entfernt zum Rathaus des Stadtteils Wedding führt, trägt seit dem Jahr 2018 ihren Namen, heißt heute also Elise-und-Otto-Hampel-Weg. Die Gedenkstele zu Ehren des Ehepaares auf dem Rathausvorplatz ist weiß und sehr eindrucksvoll. Die Inschrift auf der vorderen Seite der Stele ist eine (vergrößerte) handschriftliche Zeile von einer Postkarte, welche die Hampels verteilten: „Wache auf! Wir müssen uns von der Hitlerei befreien!“ (Die Geschichte des Widerstandes und biographische Details zu beiden Eheleuten finden sich zudem auf der hinteren Seite der Stele.)


Das wohl bekannteste Zeugnis ihres so mutigen Kampfes gegen das NS-Regime jedoch entstammt bereits der deutschen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit. Hans Fallada (* 1893 als Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, † 1947) schilderte die Geschichte von Elise und Otto Hampel in „Jeder stirbt für sich allein“, seinem letzten Werk, das im Sterbejahr des Autors publiziert wurde. Anna und Otto Quangel, die literarischen Eheleute aus dem so bedeutenden Roman, sind Elise und Otto Hampel nachempfunden - und Primo Levi (geb. 1919, gest. 1987), der unter dem Naziterror das KZ Auschwitz überlebte, bezeichnete „Jeder stirbt für sich allein“ in späterer Zeit einmal als „das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde.“

Ein Lebensweg, der unbekannt blieb
Die Geschichte von Gertrud Waschke ist dagegen weit weniger bekannt geworden als der genannte Roman von Hans Fallada - auch weil der Lebensweg jener schon betagten Handlangerin des NS-Regimes bis heute weithin im Dunkeln liegt. Details über jene Frau, die den Verrat an den Eheleuten Hampel beging, sind in nur sehr, sehr geringer Zahl nachgewiesen geworden. (Das Ehepaar Quangel im Buch von Hans Fallada wird, nebenbei bemerkt, bei der Polizei von einem Mann angezeigt.)

Gerichtsakten aus alter Zeit geben ein wenig Auskunft: Gertrud Waschke hatte sich ab dem Herbst 1948 für ihre einstige Denunziation vor Gericht zu verantworten und wurde dabei im folgenden Jahr wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Haus in der Eisenacher Straße 122, in dem sie einst lebte, ist schon vor vielen Jahren einem unscheinbaren, groben Neubau gewichen, der dem sozialen Wohnungsbau zuzuordnen ist - und anders als im Wedding erinnert hier nichts an Elise und Otto Hampel, wobei eine weitere Gedenktafel am einstigen Tatort, an dem sie verraten wurden, sehr angemessen wäre, in bleibender Erinnerung an ihren festentschlossenen Widerstand gegen den Naziterror.


Das letzte bemerkenswerte Detail, das mit Blick auf das Leben von Gertrud Waschke zu schildern bleibt, steht in direktem Zusammenhang mit dem Schlaganfall, den sie im Jahr 1946 durch die Nachricht vom Tode des von ihr denunzierten Ehepaares schließlich erlitt. Hans Fallada selbst soll es gewesen sein, der sie bei der Recherche zu seinem Roman damals in ihrer Wohnung aufsuchte und ihr berichtete, dass Elise und Otto Hampel unter dem NS-Regime ermordet worden waren - bedingt nicht zuletzt durch den Verrat, den sie wenige Jahre zuvor begangen hatte.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juni 2023

Literatur
Groschupf, Johannes: Ehepaar Hampel - Allein in Berlin, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 10. April 2011.

Kuhnke, Manfred: Falladas letzter Roman, Friedland 2011.

Mix, Andreas: Das Fallbeil zerschlug auch ihre Ehe, in: ‚Berliner Zeitung‘, online erschienen am 14. Mai 2011.

Mix, Andreas: Die Karten-Leger, in: ‚Der Freitag‘, online erschienen am 24. Juli 2011.
Quellen auf Websites
Website www.gdw-berlin.de der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“: Einträge zu Elise Hampel und zu Otto Hampel.

Website www.gedenktafeln-in-berlin.de der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ und des Vereins „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ und von Hübner, Holger: Eintrag zur Gedenktafel zu Ehren von Elise und Otto Hampel.

Elisabeth Wust und Felice Schragenheim - „Aimée & Jaguar“ und eine fehlende Gedenktafel

Elisabeth Wust und Felice Schragenheim - „Aimée & Jaguar“ und eine fehlende Gedenktafel

„‚Aimée‘ und ‚Jaguar‘ lebten hier“, mag man vor dem Haus denken - oder: „‚Aimée‘ und ‚Jaguar‘ liebten hier.“

Das alte, mehrgeschossige Mietshaus in der Friedrichshaller Straße 23 im Stadtteil Schmargendorf von Berlin „atmet“ gleichsam deutsche Zeitgeschichte. Der Stolperstein, der an der besagten Adresse auf dem Gehweg verlegt ist, bezeugt dies mit sehr wenigen Worten. „Hier wohnte Felice Schragenheim, Jg. 1922 - Deportiert 1944 - Theresienstadt - Auschwitz - Gross Rosen“, lautet die Inschrift des Steins, der in der untersten Zeile zudem drei Fragezeichen aufweist. Die Ungewissheit über die genauen Lebensumstände in den letzten Monaten, die der jüdischen Frau unter dem Naziterror noch blieben, spiegelt sich auch auf dem kleinen, metallenen Mahnmal, das an ihrem letzten Wohnort seit dem Jahr 2004 an sie erinnert. Sie lebte hier, im sehr beschaulichen südwestlichen Berlin, etwas mehr als ein Jahr lang bei Elisabeth „Lilly“ Wust (* 1913, † 2006) - verbunden in Liebe.

Daten, Fakten, Fragezeichen hinter einem Mythos
Elisabeth Wust war ‚Aimée‘. Felice Schragenheim war ‚Jaguar‘. Die Kosenamen, mit denen die beiden Frauen einander bezeichneten, sind belegt und seit vielen Jahren weithin bekannt. Schrift- und Bildzeugnisse zu ihnen wurden seit den 90er Jahren nach und nach in immer größerer Zahl publiziert. Was aber zeigt der Blick auf die gesichert nachgewiesenen, biographischen Fakten aus nationalsozialistischer Zeit? Daten, auf deren Grundlage ihre rekonstruierte Geschichte an der letzten Jahrhundertwende entstehen konnte, vermögen natürlich nicht alle Fragen zum gemeinsamen Lebensweg des ungleichen Frauenpaares zu beantworten. Das zeigt sich insbesondere hinsichtlich der einst verschleppten Jüdin.


Spuren am Ende eines steinigen Lebensweges, die sich verlieren: Sterbedatum und Todesort von Felice Schragenheim konnten nicht exakt belegt werden, zu vermuten bleibt, dass sie in der Gefangenschaft im KZ Groß-Rosen oder auf einem Todesmarsch zum KZ Bergen-Belsen umkam. Embolie soll die unmittelbare Todesursache gewesen sein. Sie fiel, das ist klar, dem Holocaust zum Opfer. Der Gedenkstein zu ihren Ehren auf dem Areal des „Dokumentationszentrums KZ Bergen-Belsen“ nennt den März 1945 als Todesdatum - eine Angabe, die aus Dokumenten im Besitz von Martin Feuchtwanger (geb. 1886, gest. 1952) hervorging. Der Verleger, der in Halle an der Saale einst den „Fünf-Türme-Verlag“ gegründet hatte, war ein Onkel von Felice Schragenheim. Das Amtsgericht Charlottenburg in ihrer einstigen Geburts- und Heimatstadt Berlin erklärte sie schließlich im Februar 1948 für verstorben und legte zugleich den 31. Dezember 1944 als formelles Todesdatum fest.

Die Zeit der Frau in der Friedrichshaller Straße 23 hatte am 21. August 1944 geendet. Der Tag wurde zu einem der letzten exakt gesicherten Daten im Leben von Felice Schragenheim. Sie wurde damals von der Geheimen Staatspolizei gefangengenommen - in der Wohnung von Elisabeth Wust, bei der sie im Jahr 1943 eingezogen war. Die Verhaftung erfolgte direkt nach einem gemeinsamen, ausgiebigen Badeausflug an die Havel, den die beiden Frauen im sommerlichen Berlin unternommen hatten und auf dem ihr letztes gemeinsames Foto entstanden war.

Die Beziehung der beiden Frauen zu- und miteinander ist schon vor langer Zeit eine der am eingehendsten dokumentierten Geschichten aus dem Berlin der NS-Zeit geworden. Elisabeth Wust berichtete Erica Fischer (* 1943), einer feministischen Journalistin, in den 90er Jahren in verschiedenen, breit angelegten Interviews von ihrem gemeinsamen Lebensweg mit der besagten Felice Schragenheim. Das Resultat des damaligen Gedankenaustauschs wurde als „Aimée & Jaguar“
verschriftlicht (1994) und verfilmt (1998). Erica Fischer machte sich zuerst und mit ihrem Buch um die Aufarbeitung sehr vieler Fakten zu Frau Wust und Frau Schragenheim in besonderer Weise verdient. Die Geschichte wandelte sich an der letzten Jahrhundertwende aber auch zu einem zeitgeschichtlichen Mythos - bedingt insbesondere durch das Drama der „Senator Film Produktion GmbH“, das auf das schriftliche, journalistisch fundierte Werk folgte.

„Mutterkreuz“ einer Mitläuferin, Widerstand ab 1942
Fakten wiederum: Elisabeth Wust, deren Mädchenname Kappler lautete, war gebürtige Berlinerin. Sie war zudem eine vom NS-Regime mit dem so genannten „Mutterkreuz“ ausgezeichnete, zugleich aber unglücklich verheiratete Hausfrau. Sie lebte mit ihrer Familie in der schon genannten Friedrichshaller Straße 23 im Stadtteil Schmargendorf der damaligen Reichshauptstadt. Sie kann hinsichtlich ihrer Einstellung zum NS-Regime als eine klassische „Mitläuferin“ bezeichnet werden - zumindest mit Blick auf die Zeit bis zur Begegnung mit Felice Schragenheim, die sie im November 1942 kennen lernte. Elisabeth Wust wurde von ihrem Ehemann, der zudem der Vater der gemeinsamen vier Kinder war, mit verschiedenen Frauen mehrfach betrogen. Der Mann, von dem sie sich im Jahr 1943 scheiden ließ, diente als Soldat in der „Wehrmacht“ des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und kehrte am Ende nie wieder aus dem II. Weltkrieg zurück. Sie wiederum hatte sich schon zuvor in Felice Schragenheim verliebt.

Die Liaison der Frauen begann im Herbst 1942 - und schon nach vergleichsweise kurzer Zeit, genauer gesagt: im April oder im Mai 1943, zog Frau Schragenheim bei Frau Wust (und bei deren Kindern) ein. Die Jüdin, die einst als Journalistin gearbeitet hatte, war vom NS-Regime zuvor mit Zwangsarbeit in einer Flaschenverschlussfabrik gepeinigt worden und hatte im Oktober 1942 bereits ihren Deportationsbescheid erhalten. Sie hatte deshalb ihren Suizid vorgetäuscht und war vor der ihr drohenden Verschleppung in den Untergrund von Berlin geflüchtet - nur kurze Zeit vor ihrer ersten Begegnung mit Elisabeth Wust. Die alsbald verliebte, als „arisch“ kategorisierte Frau stand auch weiterhin zu ihr, als sich herausstellte, dass sie sich in eine „untergetauchte“ Jüdin verliebt hatte. Sie stellte sich gegen den Naziterror - und dies auch nach der Deportation der von ihr verborgenen Lebensgefährtin, die schließlich doch erfolgte: Die Jagd der Gestapo war auch in ihrem Fall unerbittlich und ohne Gnade gewesen.

Frau Wust reiste im September 1944 noch zum Ghetto Theresienstadt, in das Frau Schragenheim von Berlin aus verschleppt worden war. Die Hoffnung, ihre große Liebe von dort befreien oder zumindest dort wiedersehen zu können, begleitete Elisabeth Wust, erwies sich jedoch als vergeblich. Die Lagerkommandantur wies sie ab, als sie in Theresienstadt mit ihrem Begehr vorstellig wurde. Briefe blieben noch für einige Zeit die letzte Verbindung zwischen den Frauen.

Die Widerstandsbetrachtung durch die deutsche Zeitgeschichtsforschung zeigt: Elisabeth Wust ist durch „Aimée & Jaguar“ an ihrem Lebensabend deutlich sichtbarer geworden als sehr, sehr viele andere Frauen, die sich ebenfalls gegen das NS-Regime aufgelehnt hatten. Das Resultat einer entsprechenden Spurensuche an ihrem einstigen Wohnort in der Friedrichshaller Straße 23 ist umso erstaunlicher. Sie ist hier unsichtbar geblieben - anders als die bei ihr aufgenommene und von ihr geliebte Jüdin, die mit dem schon beschriebenen Stolperstein vor dem Hauseingang gewürdigt wird. Nichts aber erinnert unter der genannten Adresse an die so mutige Hausfrau, eine Gedenktafel zu ihren Ehren etwa gibt es nicht. Elisabeth Wust, die in autobiographischer Hinsicht an ihrem Lebensabend so engagierte Zeitzeugin, ist also ausgerechnet am historisch nachgewiesenen, zentralen Schauplatz der Geschichte von „Aimée & Jaguar“ in Vergessenheit geraten.


Rettung dreier anderer Jüdinnen - und ein Grabstein in Lichterfelde
Die somit bestehende Leerstelle in der hauptstädtischen Gedenkkultur muss auch aus einem anderen Grunde sehr schmerzen. Der Widerstand, den sie gegen das NS-Regime leistete, beschränkte sich nicht auf die Versorgung der bis zuletzt in Liebe mit ihr verbundenen Felice Schragenheim. Elisabeth Wust versteckte vielmehr seit Februar 1945 noch weitere drei Jüdinnen in ihrer Wohnung, die sie bis zum Ende der bald darauf begonnenen Schlacht um Berlin bzw. bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945 zudem mit Lebensmitteln versorgte. Auszeichnungen für ihren Mut und ihre Tatkraft im Kampf gegen den Naziterror wurden ihr in viel späterer Zeit zuteil. Sie wurde im Jahr 1981 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland und im Jahr 1999 als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrt. Die Anerkennung als Widerstandskämpferin durch den bekanntesten israelischen Gedenkort zum Holocaust erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem das deutsche und das internationale Kinopublikum bereits durch die Geschichte von „Aimée & Jaguar“ begeistert worden waren - ebenso wie zuvor zahllose Leserinnen und Leser durch das biographische Buch von Erica Fischer.

Was bleibt an zeitgeschichtlichen Fakten und an Erinnerungen? Das Grab der Widerstandskämpferin liegt auf dem Friedhof der traditionsreichen Giesensdorfer Dorfkiche aus dem 13. Jahrhundert im heutigen Stadtteil Lichterfelde von Berlin. „Elisabeth Wust 1913 - 2006“ steht auf ihrem Grabstein - und: „In Memoriam Felice Schragenheim 1922 - 1945“. Die Verbindung der beiden Frauen ist hier gut sichtbar geworden, anders als an ihrem einstigen Wohnort. Die Liebe ist geblieben, über den Tod von ‚Jaguar‘ hinaus und auch als das zentrale Motiv in den verschiedenen Berichten, in denen die schon greise ‚Aimée‘ schließlich an ihre einstige Lebensgefährtin erinnert hatte.

„Der abgeschossene Pfeil kehrt nie zurück...“
Der letzte Seitenblick auf Felice Schragenheim soll einer besonderen Begabung gewidmet sein: Sie dichtete. 16 Verse aus ihrer Poesie seien deshalb zum Abschluss zitiert - und zwar jene Zeilen eines lyrischen Werks im Stile von Mascha Kaléko (geb. 1907, gest. 1975), das sie im März 1941 schrieb, mehr als eineinhalb Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Elisabeth Wust. Die Leidenschaft, die ein sehr wesentlicher Charakterzug von Felice Schragenheim gewesen sein muss, spiegelt sich Wort für Wort in allen vier Strophen des Gedichts, das somit einen authentischen Einblick in ihr Leben bietet - auch aus einer zeitlichen Distanz von mehr als 80 Jahren:

„Der abgeschossene Pfeil kehrt nie zurück.
Das ist kein Gott, der seine Spitze wendet –
und was man kühn für ein ‚Vielleicht‘ verschwendet,
ist oft das Glück...

Es ist zu viel, zu viel, was du verlangst!
Und feige wie ein schlechter Komödiant,
so klamm‘re ich mich fest an deine Hand
und habe Angst...

Ein Blender und ein Vagabund bin ich –
werd‘ ich mich halten ohne Selbstbetrug,
und bin ich dann, für and're gut genug,
es auch für dich?

Und doch: Du hast mit Recht so viel verlangt,
im Leben hat wohl alles Ziel und Sinn. –
Wenn ich einmal ein Mensch geworden bin,
sei du gelobt, geliebt, bedankt!“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im August 2024

Literatur
Fischer, Erica: Aimée & Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943, Köln 1994.

Fischer, Erica: Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim. „Jaguar“, Berlin 1922 - Bergen-Belsen 1945, München 2002.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Kögel, Annette: Elisabeth Wust (Geb. 1913) - „Jaguar versprach ihr: ‚Ich werde dich nie allein lassen‘“,
in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 21. April 2006.
Quellen auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Elisabeth Wust.

Website https://www.gedenkstaette-stille-helden.de der Gedenkstätte Stille Helden: Einträge zu Felice
Schragenheim
und zu Elisabeth Wust.

Mordopfer namentlich unbekannt, Tatort belegt: Uhlandstraße 103

Mordopfer namentlich unbekannt, Tatort belegt: Uhlandstraße 103

Der Junge war 17.

Die Kreuzung der Uhlandstraße mit der Berliner Straße im Stadtteil Wilmersdorf zählt seit langer Zeit zu den vielbefahrenen Verkehrsknotenpunkten südlich des Kurfürstendamms und liegt damit zentral in Berlin. Das gesamte Straßenbild ist hier eher unscheinbar: Schnellrestaurants und Cafés,
Supermärkte und Drogerien, Blumenläden und Bäckereien befinden sich in großer Zahl Wand an
Wand und Tür an Tür jeweils im Erdgeschoss der vielen hohen Wohnhäuser, die für die Umgebung
der Kreuzung ebenso typisch sind wie der vierspurige Asphalt der genannten beiden Straßen. Kontrast im Stadtbild: Der Glockenturm der traditionsreichen Auenkirche direkt am nahegelegenen Volkspark Wilmersdorf sieht vom einstigen Dorfanger aus über die flachen Dächer der umliegenden Nachbarschaft auf die Uhlandstraße und auf die Berliner Straße. Die beiden Straßen aber sind weit weniger sehenswert als das traditionsreiche, protestantische Gotteshaus, das schon in „Irrungen, Wirrungen“ (1887 / 88) von Theodor Fontane (* 1819, † 1898) erwähnt wird. Tag für Tag eilen unweit der Kirche an der beschriebenen, allzu grauen Kreuzung sehr viele Menschen rund um die Uhr zu einer der verschiedenen Bushaltestellen oder zum U-Bahnhof „Blissestraße“ - und damit zur U 7, der längsten U-Bahnlinie der gesamten Stadt. Berlin lädt hier, inmitten von immer dichtem Straßenverkehr und allzu blassen Hausfassaden, kaum dazu ein zu verweilen - und wenn Menschen innehalten und sich die Zeit für einen eingehenden Seitenblick nehmen, so tun sie dies fast immer wegen einer Gedenktafel unmittelbar am Rande des breiten Rasenstreifens, der die jeweils doppelten Fahrspuren der Uhlandstraße voneinander trennt. Die Erinnerung des hier aufgestellten Mahnmals gilt einem Mord der SS, der unter dem Naziterror als so genanntes „Endphaseverbrechen“ in die hauptstädtische Zeitgeschichte eingegangen ist.


Flucht in ein Kellerversteck - Mord an einer Straßenlaterne

Der Junge war 17 - und er versteckte sich im April 1945 kurz vor dem Monatsende (und kurz vor dem
Kriegsende) in Wilmersdorf im Keller eines Hauses in der Berliner Straße zwischen der Uhlandstraße
und der Fechnerstraße. Die „Rote Armee“ eroberte zu diesem Zeitpunkt in der so blutigen Schlacht
um Berlin, begonnen am 16. April 1945, bereits in vielen verschiedenen Stadtteilen Straße um Straße
und Haus um Haus - und sie stieß zudem auf allen Frontabschnitten immer schneller in das Stadtzentrum vor, zum so genannten „Führerbunker“ und zum Reichstagsgebäude. Die Schlacht tobte unerbittlich. Der Junge, desertiert und mit einer Jacke der Waffen-SS bekleidet, hielt sich versteckt, hätte jedoch aufgrund seines Alters noch im so genannten „Volkssturm“ für das zusammenbrechende NS-Regime kämpfen müssen - bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Atemzug, aber dem entsprechenden Befehl und allen ermüdenden, verlogenen Durchhalteparolen der immer aggressiver werdenden NS-Propaganda verweigerte er sich. Die Zeit verging und er wartete unter dem Erdboden und abseits aller so heftigen Gefechte um die damalige Reichshauptstadt auf das Ende einer schon lange entschiedenen Schlacht in einem schon lange entschiedenen Krieg - bis er von der SS entdeckt wurde.

Der Junge war 17 - und die SS zerrte ihn nun aus seinem Kellerversteck auf die offene Straße und
erhängte ihn gleich darauf mit einer Wäscheleine an einem nahen Laternenpfahl in der benachbarten
Uhlandstraße. Der SS-Trupp befolgte damit, fanatisch bis zuletzt, einen so genannten „Führerbefehl“
an die hauptstädtische Bevölkerung vom 22. April 1945, wonach „jeder, der die Maßnahmen, die
unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt“ vom NS-Regime auch und gerade
jetzt als „Verräter“ angesehen wurde und „augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“ war. (Der
Befehl ist hier auf der Website des Deutschen Historischen Museums zu sehen.) Die Leiche des ermordeten Jugendlichen blieb zur sichtbaren Abschreckung für mehrere Tage an dem besagten Laternenpfahl hängen, um den Hals ein eilends gefertigtes Pappschild: „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.“ Der Name des Jungen und das ganz genaue Datum, an dem er von der SS ermordet wurde, sind bis heute nicht bekannt. Das Verbrechen geschah, wie Augenzeuginnen und Augenzeugen in viel späterer Zeit berichteten, in den letzten Apriltagen 1945 - und es ist deshalb auch zeitlich einzuordnen. Adolf Hitler nahm sich am 30. April in den Nachmittagsstunden das Leben; um ca. 22:00 Uhr wehte an demselben Tag die Flagge der UdSSR auf dem Reichstagsgebäude. Die „Rote Armee“ eroberte am 1. Mai auch die letzten Straßen im Berliner Stadtzentrum. Berlin ergab sich am 2. Mai in den frühen Morgenstunden den siegreichen Truppen der stalinistischen UdSSR.


Der lange Weg zum angemessenen Gedenken

Der Junge war 17 - und 70 Jahre vergingen, bis an seinen so grausamen Tod (endlich) durch ein Mahnmal erinnert wurde. Der Fall des anonym gebliebenen Jugendlichen wäre beinahe für alle Zeit zu
einem Musterbeispiel des vergessenen Gedenkens geworden. Blumen wurden nach dem Ende des NS-Regimes in jedem Jahr am einstigen Tatort in Wilmersdorf niedergelegt, von Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft - bis das Verbrechen und die damit verbundenen Erinnerungen nach und nach zu verblassen schienen. Der Junge hatte eine Jacke der Waffen-SS getragen - und diese Tatsache wurde vom Bezirksamt Wilmersdorf im Jahr 1995 als entscheidender Grund genannt, aus dem der Antrag mehrerer engagierter Bürgerinnen und Bürger für eine Gedenktafel nach langer Zeit zuerst abgelehnt wurde, obwohl eine etwaige Mitgliedschaft des Jungen in der Waffen-SS nie bewiesen wurde und auch anhand des angesprochenen Kleidungsstücks nicht bewiesen ist. Das Bundessozialgericht hatte zudem schon im September 1991 festgestellt, dass auch die „Fahnenflucht“ von Deserteuren als Widerstandsakt gegen den Naziterror zu bewerten sei - aufgrund der damit verbundenen Weigerung, für das NS-Regime zu kämpfen. Die Geduld, die Dr. Michael Roeder (* 1946) bewies, führte schließlich zum (angemessenen) Gedenken: Der Historiker, der selbst in Wilmersdorf lebt, setzte sich in späterer Zeit mit viel Geduld und der gebotenen Beharrlichkeit für eine Mahntafel zu Ehren des ermordeten Jugendlichen ein, die schließlich im Jahr 2015 eingeweiht wurde - in den letzten Apriltagen. Das Mahnmal aus hellem Metall mit Blick auf den zuvor beschriebenen Mord in Wilmersdorf steht seitdem in Sichtweite der Straßenlaterne vor der Uhlandstraße 103, an welcher die SS den Jugendlichen tötete. Die Inschrift erinnert in schwarzen Buchstaben an ihn, aber auch an „alle anderen, die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten und deshalb ermordet wurden.“ Wolfgang Benz (* 1941), der auf der Gedenkfeier in Wilmersdorf sprach, fasste damals als einer der renommiertesten Historiker zur NS-Zeit die Bedeutung der Inschrift mit Blick auf Deserteure in treffenden Worten zusammen: „Wir schulden ihnen Respekt für ihre Weigerung, an weiterem Unrecht,
Massenmord und sinnlosen Opfern mitzuwirken.“


Der Junge war 17 - und er hätte sein Leben noch vor sich gehabt. Die Erinnerung an ihn ist geblieben, ebenso wie die Mahnung, die für alle Zeit auch mit jenem SS-Mord verbunden ist, der ihn tötete: Die Grausamkeit des Naziterrors kannte bis zuletzt keine Grenzen.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im März 2023

Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Deutscher Widerstand 1933 - 1945 (Publikationsreihe „Informationen zur politischen Bildung“, Nr. 243), Bonn 2004.

Dobberke, Cay: Gedenktafel für Deserteur in der Uhlandstraße, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 25. April 2015.

Dobberke, Cay: Gedenktafel für NS-Deserteur in der Uhlandstraße, in: ‚Tagesspiegel‘, online erschienen am 17. Oktober 2014.
Quellen auf Websites
Website http://blog.klausenerplatz-kiez.de/ des „Kiezer Weblogs vom Klausenerplatz“: Dokumentation
der Einweihung einer Gedenktafel für den ermordeten Jugendlichen in Wilmersdorf.

Website www.berlin.de der Stadt und des Landes Berlin: Eintrag zur Gedenktafel für den ermordeten Jugendlichen in Wilmersdorf.

„Verräter!“ - Der Mord der SS an Karl Schippa

„Verräter!“ - Der Mord der SS an Karl Schippa

Die „Total Energies“-Tankstelle und ihre Waschanlage direkt am einstigen Tatort sind ebenso unscheinbar wie der gesamte Straßenabschnitt, der an der südlichen Uferseite des Landwehrkanals sich entlangwindet. Ich stehe am Tempelhofer Ufer 34, genau auf halber Höhe zwischen der Schöneberger Straße und der Luckenwalder Straße in Kreuzberg, jenem zentral gelegenen Stadtteil von Berlin, der wie kaum ein anderer seit langer Zeit als alternatives „Szeneviertel“ bekannt ist - und dies auch jenseits der Stadtgrenzen.


Der U-Bahnhof Gleisdreieck der so oft besungenen U-Bahnlinie 1 („Fahr‘ mal wieder U-Bahn...“) befindet sich in Gehdistanz und liegt unweit jener schmalen Kurve, an der die Schöneberger Straße und die Luckenwalder Straße aufeinandertreffen. „Ton Steine Scherben“-Fans aus lange vergangenen Tagen kommen gelegentlich zum Tempelhofer Ufer, was ihrer musikalischen Nostalgie und ihrer ungebrochenen Liebe zu den fast schon sagenumwobenen 80er Jahren im damaligen West-Berlin geschuldet ist. Ralph Christian Möbius (* 1950, † 1996), besser bekannt als ‚Rio Reiser‘, lebte und arbeitete hier, das Haus Nr. 32 war gewissermaßen die kreative Hochburg, von welcher aus „Seine Majestät Rio I. und Einzige, König von Deutschland“ sinnierend und singend sein Volk zu regieren pflegte. Gedenktafel und Graffito zu Ehren von ‚Rio Reiser‘ zieren den grauen Hauseingang, aber ich werfe nur einen kurzen Blick darauf und gehe weiter, denn ich will von einem Mord berichten, der sich in Sichtweite des soeben gesehenen, quasiköniglichen Hauses zutrug - viele, viele Jahre vor der Bandgeschichte von „Ton Steine Scherben“.

Die vielen stadtgeschichtlichen Kontraste sind hier - wie in ganz Berlin - sehr tief. Das Tempelhofer Ufer war - nur wenige Meter entfernt von der soeben beschriebenen, „kultigen“ Adresse - in den späten Abendstunden des 1. Mai 1945 der Schauplatz eines so genannten „Endphaseverbrechens“ unter dem Naziterror. Die SS ermordete vor dem einstigen Mietshaus am Tempelhofer Ufer 34 einen Mann, der Karl Schippa hieß und der Zivilist war, nachdem er hier in der so blutigen Schlacht um Berlin verwundeten sowjetischen Soldaten geholfen hatte - und sie erschoss ihn nur wenige Stunden, bevor die damalige Reichshauptstadt im Morgengrauen des 2. Mai 1945 vor der Roten Armee kapitulierte.

„... augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“
Das Dokument, das in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, war ein so genannter „Führerbefehl“ an die hauptstädtische Bevölkerung vom 22. April 1945. Der Befehlstext verdeutlichte in wenigen Zeilen, dass „jeder, der die Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt“ vom NS-Regime auch und gerade jetzt als „Verräter“ angesehen wurde und „augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“ war. (Der Befehl ist hier auf der Website des Deutschen Historischen Museums zu sehen.)

Die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) hat sich darum verdient gemacht, den Lebensweg von Karl Schippa (* 1890, † 1945) so eingehend wie möglich zu rekonstruieren. Wir wissen deshalb heute, dass er als junger Mann zuerst bei der Eisenbahn arbeitete und zudem im Jahr 1916 der SPD und der Eisenbahngewerkschaft beitrat. Karl Schippa lebte zu dieser Zeit im westpreußischen Schneidemühl (und damit in der heutigen Stadt Piła in Polen), wo er im November 1918 in den lokalen „Arbeiter- und Soldatenrat“ gewählt wurde. Das Ende seines beruflichen Wirkens als Eisenbahner erfolgte im Jahr 1921, als Karl Schippa von der Deutschen Reichsbahn (gegr. 1920) entlassen wurde - und dies wegen so genannter „Rädelsführerschaft“, nachdem ein Ausbesserungswerk bestreikt worden war. Herr Schippa arbeitete danach beim brandenburgischen Landesarbeitsamt und verlor seine Anstellung erneut, als er unter dem NS-Regime bereits im Jahr 1933 aus dem Berufsleben verstoßen wurde - als Sozialdemokrat und als Gewerkschafter. Der Mann lebte danach in Berlin und hier zuletzt in der Ratiborstraße 2 in Kreuzberg, knapp fünf Kilometer entfernt vom Tempelhofer Ufer 34, wo er am 1. Mai 1945 ermordet wurde.

Karl Schippa: Sozialdemokrat - und ermordet, kurz bevor die Waffen schwiegen
Der Mord der SS an Karl Schippa ist mit einigen zusammenfassenden Worten auch und vor allem zeitlich einzuordnen: Die Schlacht um Berlin hatte am 16. April 1945 begonnen, als die Rote Armee mit einem harten Zangenangriff auf die gesamte Stadt das schon lange sich abzeichnende und immer schneller nahende Ende des NS-Regimes einleitete. Adolf Hitler hatte sich am Nachmittag des 30. April 1945 im „Führerbunker“ bereits das Leben genommen - und um etwa 22:00 Uhr wehte an demselben Tag auf dem Dach des Reichstagsgebäudes das rote Banner (mit „Hammer und Sichel“) der UdSSR, deren Streitkräfte schließlich auch im Stadtzentrum immer weiter vorstießen. Straße um Straße und Haus um Haus eroberte die Rote Armee hier dann auch bis zum Nachmittag des 1. Mai 1945, aber zu vereinzelten Gefechten kam es in der schon besiegten Stadt noch immer - so auch am Landwehrkanal in Kreuzberg, wo Karl Schippa kurz vor dem Ende einer schon lange entschiedenen Schlacht ermordet wurde. Berlin ergab sich am 2. Mai 1945 um ca. 08:00 Uhr morgens, auch die letzten versprengten "Wehrmachts- und Volkssturmeinheiten" in der Stadt legten nun die Waffen nieder: Die Rote Armee hatte gesiegt - keine zehn Stunden, nachdem Karl Schippa in der allerletzten Nacht der Kampfhandlungen erschossen worden war.


Die Grausamkeit des geschilderten SS-Verbrechens an ihm ist kaum in Worte zu fassen - und die tödlichen Schüsse auf den engagierten Sozialdemokraten sind kein Einzelfall: Die SS ermordete in den letzten Kriegstagen noch zahllose Zivilistinnen und Zivilisten. Der Stolperstein zu Ehren von Karl Schippa ist im Jahr 2013 vor der Ratiborstraße 2 verlegt worden (und damit an seiner letzten nachgewiesenen Wohnadresse), aber was in Berlin bis heute fehlt, ist eine Gedenktafel am Tempelhofer Ufer 34.

Das Haus, vor dem Karl Schippa erschossen wurde, steht schon seit langer Zeit nicht mehr. Der Tatort aber, an dem der mörderische Wahnsinn des NS-Regimes ihn hier tötete, konnte eindeutig nachgewiesen werden. Das Auge reicht vom Tempelhofer Ufer 34 weit hinein bis nach Kreuzberg, so etwa in Richtung der noch verbliebenen Gleise des verlassenen Anhalter Bahnhofs, die sich (weithin unbemerkt) nahe dem gegenüberliegenden Ufer des Landwehrkanals befinden. Die Gegend lässt mit ihrem vielfach sehr alten Mauerwerk in vielen verschiedenen Straßen zudem erahnen, wie Berlin seit dem beginnenden 20. Jahrhundert ausgesehen haben muss - und da eine Erinnerung an Karl Schippa fehlt, zeigt sich hier zugleich sehr deutlich, wie unsichtbar viele einzelne Ereignisse der hauptstädtischen Zeitgeschichte bis heute geblieben sind.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Quellen auf Websites
Website www.dhm.de/lemo des „Deutschen Historischen Museums“ („Lebendiges Museum Online“): Eintrag „Die Schlacht um Berlin 1945“.

Website www.stolpersteine-berlin.de/de: Eintrag zum Stolperstein für Karl Schippa.