Frieda Adam - „Dann bleibste hier“

Frieda Adam - „Dann bleibste hier“

Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker (* 1920, † 2015) antwortete nie auf jenen Brief, der ihm in den 80er Jahren von Erna Putermann (geb. 1919, Sterbejahr unbekannt) geschrieben worden war - und damit lange, lange Jahre nach dem Ende des NS-Regimes. Die schon betagte Petentin wird nicht erwartet haben, dass eine Reaktion zu ihrem Anliegen ausblieb, hatte sie sich gegenüber dem deutschen Staatsoberhaupt doch für eine Auszeichnung ihrer besten Freundin eingesetzt, der sie nicht weniger als ihr Leben zu verdanken hatte. Erna Putermann war Jüdin - und die mit ihr befreundete Frieda Adam (* 1919, † 2013) hatte ihr mehr als zweieinhalb Jahre lang mit bedingungsloser Hilfe zur Seite gestanden, als sie einst in Berlin die innerstädtische Flucht vor dem Naziterror angetreten hatte.

Flucht in die Schönhauser Allee
Die Spurensuche zu der lange verborgen gebliebenen Geschichte von Frieda Adam und von Erna Putermann führt in Berlin nach Prenzlauer Berg und dort zum mehrgeschossigen Wohnhaus in der Schönhauser Allee 90. Die Haustür an der beschriebenen Adresse ist unscheinbar und liegt direkt neben einer kleinen Eckkneipe, hinter deren staubigen Fenstern und blassen Fassaden am Tresen das alte Berlin mit all seiner rauen Herzlichkeit zu schlummern scheint. Frieda Adam lebte lange Jahre in der Schönhauser Allee 90, aber bis zum heutigen Tag deutet nichts an diesem Haus auf das hin, was sie seit einem Herbstabend im Jahr 1942 erlebte und leistete.


Der 20. November 1942 wird ein kalter Tag gewesen sein - und in den Abendstunden klingelte es bei Frieda Adam, die gemeinsam mit ihren drei Kindern hier wohnte. Erna Putermann stand vor dem Haus, in tiefer Verzweiflung und auf der Flucht vor dem Naziterror - und Frieda Adam öffnete ihr die Tür. Die Freundin war, wie sich schnell zeigte, mit ihrer Kraft und mit ihren Nerven beinahe am Ende. Sie zitterte, war außer Atem und weinte und weinte, da ihre Mutter, am vorherigen Tag von der Gestapo verhaftet worden war, wie sie Frieda Adam sogleich berichtete. Sie ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie einander nie wiedersehen sollten: Die Mutter von Erna Putermann wurde unter dem NS-Regime deportiert und ermordet. Erna Putermann selbst, der ebenfalls die Verhaftung und die Verschleppung drohten, war deshalb voller Angst aus der heimischen Umgebung davongelaufen, dies aber ohne ein festes Ziel. Stunde um Stunde war sie in Berlin umhergestreift, bis ihr Weg durch die damalige Reichshauptstadt sie schließlich zu Frieda Adam führte - und damit zu einer Freundin, auf die schon immer Verlass gewesen war. Die Mutter war also „mitgenommen“ worden, wie Erna Putermann es formulierte - und Frieda Adam, die sie in ihre Wohnung gelassen hatte, entschied sofort: „Dann bleibste hier.“

Die Entbehrungen einer „Soldatenfrau“ - und einer Freundin
Frieda Adam führte zu diesem Zeitpunkt, wie so viele andere Frauen in ganz Berlin und im gesamten Deutschen Reich, das entbehrungsreiche Leben einer „Soldatenfrau“, da ihr Ehemann zur „Wehrmacht“ einberufen worden war und nun als Soldat im II. Weltkrieg an der Front war, fernab der Heimat. Das Ehepaar hatte drei Kinder, die im Herbst 1942 gerade einmal sechs und vier und zwei Jahre alt waren und die Frieda Adam nun allein zu versorgen hatte. Die Wohnung bot kaum noch Platz, das zuvor gegebene Wort der Hausfrau jedoch galt: Sie nahm die zu ihr geflüchtete Erna Putermann bei sich auf.


Die Frauen waren beide in Berlin geboren worden, kannten sich seit dem Jahr 1939 aus der gemeinsam durchlaufenen Lehre zur Näherin und hatten sich zu dieser Zeit schnell miteinander angefreundet. Erna Putermann war unter dem NS-Regime schon bald darauf zur Zwangsarbeit für die Siemens AG verpflichtet worden. Frieda Adam jedoch hatte auch weiterhin zu ihr gestanden, auch als die Lage für die jüdische Bevölkerung im gesamten nationalsozialistischen Deutschen Reich durch immer neue Zwangsmaßnahmen immer bedrohlicher geworden war. Die Frauen erzählten in viel späterer Zeit etwa von einem gemeinsamen Nachmittag inmitten des pulsierenden Stadtzentrums: Erna Putermann hatte unter dem NS-Regime seit dem Herbst 1941 auf ihrer Kleidung gut sichtbar den so genannten „Judenstern“ zu tragen. Frieda Adam war mit ihrer Freundin dennoch auf dem Kurfürstendamm spazieren gegangen, Seite an Seite und trotz aller antisemitischen Beschimpfungen.

Das Leben war für Erna Putermann jedoch unbeschreiblich hart geblieben, vor allem wegen der auch ihr drohenden bzw. im Falle der Mutter bereits erfolgten Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei. Der 20. November 1942 wurde schließlich zum Zeitpunkt, an dem es galt, sie vor dem Naziterror zu verstecken. Frieda Adam nahm es auf sich. Der Plan aber, der bei ihr untergekommenen Freundin vorerst für ein paar Tage zu helfen und dann neu zu bedenken, wie eine Rettung hoffentlich gelingen werde, wandelte sich. Die Zeit verging und aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate und aus Monaten wurden Jahre, in denen Erna Putermann bei ihrer Freundin wohnte - immer auf allerengstem Raum, aber weiterhin in treuer Freundschaft.

„..., dann reicht’s auch für sechs!“
128 Reichsmark standen Frieda Adam als einer „Soldatenfrau“ in jedem neuen Monat gerade einmal zur Verfügung, um ihre drei Kinder und sich selbst zu versorgen. Sie schaffte es dennoch, von dem sehr knapp bemessenen Geld nicht nur ihren Nachwuchs zu versorgen, sondern auch sich selbst und ihre bei sich versteckte Freundin, für die sie ihr Leben riskierte - Tag für Tag. Frieda Adam verstand sich seit jeher darauf, entschlossen und voller Tatkraft zuzupacken - und sie nahm im Herbst 1943 auch noch den Bruder von Erna Putermann bei sich auf.

Der gehörlose junge Mann hieß Jakob Putermann (Lebensdaten unbekannt) und hatte versteckt auf einem Dachboden unweit der Schönhauser Allee 90 gelebt - bis Frieda Adam zu ihm gekommen war, um ihn vor einem Verrat zu warnen, nachdem seine Anwesenheit in der Nachbarschaft bemerkt worden war. Sie ließ auch ihn bei sich wohnen, da er der Bruder ihrer besten Freundin war - und gemeinsam mit dem versteckten Geschwisterpaar und ihren Kindern meisterte sie weiterhin alle zunehmenden Entbehrungen, insbesondere die Lebensmittelknappheit. „Frieda sagte nur: ‚Wenn es für uns vier genug zu essen gibt, dann reicht’s auch für sechs!‘“, berichtete Erna Putermann, als sie viele Jahre danach über ihr Leben unter dem NS-Regime sprach. Jakob Putermann lebte für mehrere Wochen in der Schönhauser Allee 90, bis die Retterin in der Not ein neues Versteck für ihn organisieren konnte.


Scheidung in der Nachkriegszeit, Ehrung in Yad Vashem
Gefahr drohte im Laufe der Zeit durch eine vermutlich nicht erwartete Wendung. Der Ehemann von Frieda Adam herrschte sie bei einem Heimaturlaub von der Front an, ihre versteckte jüdische Freundin aus der gemeinsamen Wohnung fortzuschicken. Der Mann drohte seiner eigenen Ehefrau in blanker Wut schließlich damit, sie bei der Gestapo anzuzeigen, weil sie eine Jüdin bei sich versteckte. Frieda Adam konnte ihn mit Versprechungen „hinhalten“, vorerst jedoch nur - und nach und nach wurde klar, dass es zwingend notwendig war, einen neuen Ort zu finden, an dem Erna Putermann im Verborgenen leben konnte. Frieda Adam nutzte deshalb die Silvesternacht des Jahres 1944, um ihre Freundin in das Versteck ihres ebenfalls „untergetauchten“ Bruders zu bringen - und die Geschwister überlebten das NS-Regime und den II. Weltkrieg dank der resoluten, immer wieder neu zupackenden Hausfrau, die bis zuletzt an ihrer Seite blieb.

Sie ging in der Nachkriegszeit einen weiteren Schritt, der ihr in den vorangegangenen Jahren besonders wichtig geworden war: Frieda Adam reichte die Scheidung ein und setzte ihren Lebensweg ohne jenen Mann fort, der ihr einst sogar mit Verrat bei der Geheimen Staatspolizei gedroht hatte. Die Freundschaft zu Erna Putermann jedoch blieb - bis zum Lebensende und auch nach weiteren Wendungen der deutschen Zeitgeschichte. Die Berliner Mauer trennte die beiden Frauen in späterer Zeit voneinander: Frieda Adam lebte in Ost-Berlin, Erna Putermann lebte in West-Berlin.

Die Frauen jedoch wurden beide alt - sehr, sehr alt. Die Freundschaft der beiden Damen überdauerte auch die langen Jahrzehnte der deutschen Teilung bzw. der Mauer und sie sahen sich an ihrem Lebensabend noch oft. Erna Putermann setzte sich seit den 80er Jahren zudem in der gebotenen Beharrlichkeit für eine angemessene Auszeichnung der aufopferungsvollen Rettungstat ihrer besten Freundin ein - auch nachdem Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker auf ihren entsprechenden Wunsch nicht reagiert hatte, wie in den ersten Zeilen dieses Essays geschildert.


Erna Putermann fand schließlich Gehör, dies aber fernab der Bundesrepublik Deutschland: Frieda Adam wurde im Dezember 1992 von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt, mehr als 50 Jahre nach dem einstigen Herbstabend, an dem Erna Putermann zu ihr geflohen war. Die Auszeichnung erfolgte im Juni 1993 in Bonn durch Mordechay Lewy (* 1948), der zu dieser Zeit als israelischer Generalkonsul in der Bundesrepublik Deutschland fungierte - und die beiden Frauen waren unzertrennlich, gingen auch zu diesem besonders feierlichen Termin Seite an Seite, wie schon so oft in den vorangegangenen Jahrzehnten.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Mai 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Jacob, Rena: Frieda Adam - Eine Gerechte unter den Völkern, in: ‚Sunday News‘ vom 12. Mai 2013.

Kahn, Anna-Patricia: Im Garten der Gerechten, in: ‚FOCUS‘ vom 13. November 2013.

Kleine-Brockhoff, Thomas / Kurbjuweit, Dirk: Die anderen Schindlers, in: ‚Die Zeit‘ vom 1. April 1994.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://jfr.org/ der „Jewish Foundation for the Righteous“: Eintrag zu Frieda Adam.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Frieda Adam.

Valeska Buchholz - Mut unter einer vergessenen Adresse

Valeska Buchholz - Mut unter einer vergessenen Adresse

Die Rettungstat konnte sehr eingehend rekonstruiert werden, der Stadtteil und die Straße und das Haus, in dem sie sich zutrug, dagegen sind unbekannt geblieben. Die Spurensuche auf vergangenen Lebenswegen zeitigt bisweilen eigenartige Rechercheergebnisse, so auch im Falle von Valeska Buchholz, die in Berlin unter dem NS-Regime ein jüdisches Ehepaar vor der Deportation in ein KZ bewahrte - und von der heute nicht einmal mehr zu erahnen ist, wo sie in der damaligen Reichshauptstadt lebte.

Hausangestellte eines weltbekannten Arztes
Die Fragmente eines sehr bemerkenswerten Lebensweges: Valeska König - so ihr Familienname bei der Geburt - arbeitete in den 30er Jahren in Berlin als Kinderfrau und Hausangestellte für die Familie von Prof. Dr. Oskar Fehr (geb. 1871, gest. 1959), eines weltweit angesehenen Augenchirurgen. Der Professor leitete u. a. seit dem Jahr 1907 die augenärztliche Abteilung des so bedeutenden Rudolf-Virchow-Klinikums im Wedding (und damit im Stadtzentrum). Die Zwangsmaßnahmen und der antisemitische Hass des NS-Regimes trafen gleichwohl auch diesen hervorragenden und sehr erfahrenen Spezialisten der Augenheilkunde, der jüdischen Glaubens war. Oskar Fehr wurde unter dem immer stärker werdenden Naziterror im Jahr 1934 aus seinem Krankenhaus verstoßen - und im Jahr 1938 wurde ihm zudem die Approbation entzogen. Valeska König blieb gleichwohl bis zum August 1939 im Haushalt von Oskar Fehr tätig, der wenige Wochen vor dem damaligen Angriff des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auf Polen bzw. dem II. Weltkrieg mit seiner Familie nach Großbritannien fliehen konnte. (Der Weg ins Exil bedeutete die Rettung: Oskar Fehr nahm im Jahr 1947 die britische Staatsangehörigkeit an und er verstarb im Jahr 1959 in greisem Alter in London.)

Valeska König heiratete, nachdem Oskar Fehr mit seiner Familie die Flucht angetreten hatte - und ihr Ehemann war ihr von ihrer Arbeitsstelle her bestens bekannt: Rudi Buchholz, dessen Familiennamen sie annahm, war ebenfalls für Familie Fehr tätig gewesen und arbeitete nun als Hausmeister für einen Wohnblock in Berlin - bis er zur „Wehrmacht“ einberufen wurde. Das Leben unter dem NS-Regime bzw. im II. Weltkrieg wird sehr hart und von vielen Entbehrungen bestimmt gewesen sein, doch als sie um Hilfe gebeten wurde, entschied sich Valeska Buchholz, sofort zu handeln und zu helfen. Sie wurde im März 1943 von Dina und Heinz Krieger (oder Brieger*) kontaktiert, einem jüdischen Ehepaar, das in früherer Zeit in dem von Rudi Buchholz betreuten hauptstädtischen Wohnblock gelebt hatte. Das Paar hatte bereits seinen Deportationsbefehl erhalten und war nun auf der Flucht und dabei zugleich so verzweifelt, dass sich die Ehefrau und der Ehemann bereits mit Selbstmordgedanken trugen.


Der Lebensweg von Frau Buchholz liegt, wie bereits beschrieben, im Dunkeln, aber im entscheidenden Moment bewies sie, wie eindeutig belegt ist, sehr großen Mut: Sie nahm beide Eheleute auf, versteckte sie im Anbau ihrer Portierswohnung und versorgte sie trotz aller organisatorischen Schwierigkeiten heimlich mit Lebensmitteln. Dies gelang nun Monat für Monat in jeder neuen Woche, bis das Haus im Herbst 1943 bei einem alliierten Luftangriff getroffen wurde und danach starken Bombenschaden aufwies. Das Ehepaar, das von Frau Buchholz versteckt worden war, fand schnell eine neue Zuflucht - und es überlebte den Naziterror bzw. den II. Weltkrieg. Das Fragezeichen hinter der Lage ihres einstigen Verstecks jedoch steht bis heute: Der Wohnort von Valeska und Rudi Buchholz innerhalb Berlins ist unbekannt bzw. in Vergessenheit geraten - wie auch ihr weiterer Lebensweg, bis auf zwei wesentliche Gewissheiten.

"Fate: survived" - und mehrere Fragezeichen
„Fate: survived“ steht in der biographischen Notiz zu Valeska Buchholz (in englischer Sprache) in der Datenbank von Yad Vashem. Sie hat das NS-Regime demnach ebenfalls überlebt - und sie wurde im März 1984 als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Die Hoffnung etwa auf eine Valeska-Buchholz-Straße bzw. auf eine anderweitige Ehrung in Berlin bleibt deshalb - zumal eine solche angesichts der nur sehr spärlich vorhandenen Spuren ihres Lebensweges umso wichtiger wäre, denn selbst das Geburtsdatum und das Sterbedatum der so mutigen Helferin in der Not sind nicht bekannt.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

* Der Eintrag zu Valeska Buchholz in der Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ von Yad Vashem weist den Familiennamen des von ihr versteckten jüdischen Ehepaares zuerst als Krieger, dann aber (im Seitenbereich „Rescued Persons“) als Brieger aus.
Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Valeska Buchholz.

Lydia Forsström - Rettung am Campus der Charité

Lydia Forsström - Rettung am Campus der Charité

„Wir kamen zu spät“, berichtete Martina Voigt, nachdem alle Nachforschungen abgeschlossen worden waren. Die Historikerin, die für die „Gedenkstätte Stille Helden“ in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin sehr wertvolle Forschungsarbeit leistet, fasste mit den gerade zitierten Worten die Recherchearbeiten zu einer „Gerechten unter den Völkern“ zusammen. Die Suche, die damit verbunden gewesen war, hatte im Jahr 2010 bis in das niedersächsische Bergen geführt hatte - und damit in den Landkreis Celle, nördlich von Hannover. Lydia Forsström (* 1919, † 2006) war der Name jener Frau, die in Bergen ihren Lebensabend verbracht hatte, die hier im Jahr 2006 verstorben war und deren Geschichte rekonstruiert werden sollte. Der Grund für das geschichtswissenschaftliche Interesse an ihr stammte aus der Zeit des nationalsozialistischen Deutschen Reiches: Lydia Forsström war in jungen Jahren bzw. in ihrer studentischen Zeit gegen den Naziterror in den Widerstand gegangen.

Sie war eine mutige Frau und trug vor allem entscheidend dazu bei, einer von ihr versteckten Jüdin unter dem NS-Regime das Leben zu retten - und dies mitten in Berlin. Die Spurensuche nach dem Lebensweg von Lydia Forsström führte mich mehr als eineinhalb Jahrzehnte nach ihrem Tod deshalb in das Stadtzentrum unweit des Berliner Hauptbahnhofs. Das Haus, das ich suchte, steht schon seit langer Zeit nicht mehr, doch die Straße, in der es sich befand, wird bis heute immer wieder von vielen Menschen durchquert - und zwar Tag für Tag in jeder neuen Woche.

Haus lange abgerissen, Adresse noch bekannt: Luisenstraße 67 in Berlin-Mitte
Die Suche in Berlin führte zum nördlichen Ende der Luisenstraße, die auf die traditionsreiche Invalidenstraße bzw. auf den davor gelegenen Platz vor dem Neuen Tor und den Robert-Koch-Platz zuläuft. Ich stand schließlich also auf dem Campus der Charité - und auch das nach Prof. Dr. Robert Koch (* 1843, † 1910) benannte kleine Areal direkt im Schatten des so genannten „Bettenhauses“ der Klinik verdeutlicht hier die bedeutende medizingeschichtliche Vergangenheit des gesamten Stadtteils. Das so traditionsreiche Krankenhaus wurde bereits in lange vergangenen Zeiten zu einem der wichtigsten medizinischen Wissenschaftszentren in ganz Europa - und das ist die Charité noch heute. Die Vergangenheit jedoch lebt in allen hauptstädtischen Straßen von der Vielfalt ihrer Geschichte(n) - und umso mehr ist zu bedauern, dass nichts daran erinnert, dass am Campus der Charité einst eine junge Studentin lebte, die in der NS-Zeit in ihrer Wohnung einen jüdischen Mitmenschen vor der Deportation in ein KZ bewahren konnte.


Lydia Forsström, die besagte Retterin, wohnte damals im inzwischen abgerissenen Haus in der Luisenstraße 67. Die Adresse ist im „Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher“ belegt, das in erster Auflage im Jahr 2005 erschienen ist. Sie wurde für ihre wiederholte Hilfe, die sie unter dem Naziterror für mehrere verfolgte Mitmenschen leistete, im Jahr 1980 in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Der Lebensweg von Lydia Forsström ist in Deutschland bzw. in Berlin gleichwohl bis an ihr Lebensende weithin unbekannt geblieben - und die Rekonstruktion desselben gestaltete sich schwierig.

Widerstand aus dem christlichen Glauben: Die ESG
Wir wissen heute, dass Lydia Forsström seit ihrer Kindheit im Deutschen Reich lebte, zugleich aber die finnische Staatsangehörigkeit besaß - und nachgewiesen ist neben der postalischen Anschrift ihres einstigen Wohnsitzes, dass sie als junge Frau in Heidelberg und in Berlin studierte und in dieser Zeit zugleich in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) engagiert war. Die ESG-Gruppen wurden im Jahr 1938 im gesamten Deutschen Reich von der Gestapo verboten. Die Neugründung solcher studentischen Gemeinden wurde zugleich unter Strafe gestellt. Der Widerstand der protestantischen Gruppen hatte in ihrer Hilfe für jüdische Mitmenschen und zudem für so genannte „nicht-arische“ Christinnen und Christen bestanden, die von der ESG vor allem mit Verstecken sowie mit Lebensmitteln und mit gefälschten Personaldokumenten unterstützt worden waren. Lydia Forsström hatte das NS-Regime bereits vor dem Verbot der ESG abgelehnt und sich dem Naziterror widersetzt - wie so viele ihrer gläubigen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der nun zerschlagenen Gemeinde.

Sie blieb auch weiterhin im Widerstand, der in der Hilfe für die „untergetauchte“ Liselotte Pereles (geb. 1906, gest. 1970) gipfeln sollte, die in Berlin bis zum Februar 1943 einen jüdischen Kindergarten leitete. Liselotte Pereles trat damals angesichts immer zahlreicherer Deportationen die Flucht vor dem Naziterror an - gleichsam im letzten Moment und gemeinsam mit Susanne Manasse (Lebensdaten unbekannt), ihrer Nichte bzw. ihrer Pflegetochter, die erst neun Jahre alt war, als beide in den Untergrund gingen.

Quäkerin im widerständigen Untergrund: Elisabeth Abegg
Hilfe erhielten die Frau und das Kind in der damaligen Reichshauptstadt zuerst von Elisabeth Abegg (* 1882, † 1974), die Quäkerin war - und zugleich der organisatorische Kopf eines festverbundenen Netzwerks von mutigen Menschen, die geflohenen Jüdinnen und Juden in Berlin durch vielfältige Hilfe zur Seite standen. Frau Abegg, in den 50er Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz und in den 60er Jahren als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, stellte Lydia Forsström und Liselotte Pereles schließlich einander vor, als sie auf der Suche nach einem Versteck für die „untergetauchte“ Kindergartenleiterin war. Die beiden miteinander bekannt gemachten Frauen waren sich zuvor noch nie begegnet, aber die gläubige Christin nahm den geflohenen Mitmenschen sofort bei sich auf. Sie wohnten fortan für eineinhalb Jahre gemeinsam in der kleinen Einzimmerwohnung in der Luisenstraße 67 - direkt im immer belebten Stadtzentrum, nahe u. a. dem Bahnhof Friedrichstraße.


Liselotte Pereles hatte (getarnt unter dem Familiennamen ‚Koch‘) zuvor bereits in verschiedenen Verstecken gelebt - und der Weg zu Lydia Forsström war mit einem für sie entscheidenden, schmerzhaften Schritt verbunden: Sie musste getrennt von ihrer Pflegetochter bei der Helferin einziehen, die in ihrer Wohnung lediglich einen einzelnen Menschen aufnehmen konnte.

Der Zusammenhalt der Frauen war sehr, sehr fest - und das Leben wurde zugleich von vielen Herausforderungen bestimmt. Lydia Forsström aber teilte, was sie hatte, immer bereitwillig mit der von ihr versteckten Jüdin - insbesondere ihre Lebensmittel. Sie half zudem weiteren verfolgten Mitmenschen, so etwa in den letzten Monaten des NS-Regimes einer inhaftierten jüdischen Mutter und ihrem jugendlichen Sohn, der in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als so genannter „Halbjude“ galt: Lydia Forsström überbrachte mehrere Nachrichten zwischen Mutter und Sohn bzw. zwischen Sohn und Mutter, damit beide miteinander in Kontakt blieben.

Die Informationen zu ihrem weiteren Lebensweg sind sehr, sehr spärlich: Lydia Forsström lebte nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und des II. Weltkrieges zuerst in Schweden. Sie verbrachte ihren Lebensabend jedoch, wie in den ersten Textzeilen geschildert, im niedersächsischen Bergen - und damit in jener kleinen Stadt, in der einst ihr Vater im Jahr 1940 eine Anstellung als Prokurist gefunden hatte und in der seitdem auch ihre Schwester lebte. Die Helferin in der Not wurde im Jahr 1980 und damit noch zu Lebzeiten als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt - und Lydia Forsström verstarb schließlich in greisem Alter, nachdem sie zuvor mehrere Jahre lang in einem Pflegeheim gewohnt hatte.

Elisabeth Abegg überlebte den Naziterror ebenfalls - und dies um viele, viele Jahre. Die Quäkerin wurde in Berlin für ihr mutiges, segensreiches Wirken im Kampf gegen den Naziterror posthum auch mit einer Gedenktafel am Tempelhofer Damm 56 im gleichnamigen Stadtteil ausgezeichnet - und damit an ihrem einstigen Wohnhaus, in dem sie ihren Widerstand organisiert und bis kurz vor ihrem Tode gelebt hatte.

Lydia Forsström nach 1945: Fallbeispiel des ausgebliebenen Gedenkens
Erinnerungen an oder Ehrenzeichen für Lydia Forsström jedoch fehlen in Berlin bis heute - und der einstige Standort ihres Wohnhauses in der Luisenstraße ist lediglich aufgrund alter Straßenverzeichnisse sehr genau zu bestimmen. Die Hausnummer 67 ist zum Beispiel auf dem „Grieben-Stadtplan Berlin“ aus dem Jahr 1939 direkt am Robert-Koch-Platz verzeichnet, der seinen Namen bereits zu dieser Zeit trug. Das Straßenbild auch der Luisenstraße hat sich, wie in Berlin-Mitte ganz typisch, in den folgenden Jahrzehnten immer wieder sehr verändert.


Hochhaus an Hochhaus bzw. Glasfassade an Glasfassade reiht sich heute auf dem Campus der Charité - und wer die Luisenstraße zwischen den zentralen Liegenschaften des so traditionsreichen Universitätsklinikums durchquert, möge zumindest einen Moment lang innehalten und jener so mutigen Widerstandskämpferin gedenken, die mit ihrer Hilfe hier einst dazu beitrug, dass mehrere Mitmenschen dem NS-Regime lebend entkommen konnten.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Bierschwale, Peter: Stille Heldin: Wer kannte Lydia Forsström?, in: „Cellesche Zeitung“ (CZ), Ausgabe vom 28. Mai 2010.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Lydia Forsström und zu Elisabeth Abegg.

Website https://berliner-stadtplansammlung.de für den „Grieben-Stadtplan Berlin“ aus dem Jahr 1939 (vgl. Text).

Paula Hülle - Widerstand einer vermögenden Witwe

Paula Hülle - Zigarren, Widerstand und lebensrettende Hilfe

Die Verbundenheit der beiden Frauen erwies sich als nach wie vor sehr, sehr fest - auch nach langen Jahren, in denen sie sich nie wiedergesehen hatten, und auch aus der Distanz mehrerer tausend Kilometer, die zwischen ihnen lagen.

1969: Jutta Schäfer lebt in den USA. Paula Hülle lebt in der DDR. Sie haben seit langer Zeit nichts mehr voneinander vernommen. Frau Schäfer aber nimmt nun Kontakt auf, denn Frau Hülle rettete ihr unter dem Naziterror einst das Leben - und ihre Geschichte aus der NS-Zeit führt in die Rigaer Straße 103 in Berlin-Friedrichshain, wo alles begann.


Tabakwaren - und Widerstand gegen die Nazis
Die 30er Jahre in der damaligen Reichshauptstadt waren auf vielfache Weise eine wechselvolle und schwere Zeit. Paula Hülle (* 1903, † 1992), geb. Katsch, lebte damals verwitwet, zugleich aber recht wohlhabend im östlich gelegenen Stadtteil Friedrichshain. Sie besaß einen gut gehenden Tabakwarenladen in der Rigaer Straße 103 - und sie kämpfte gegen das NS-Regime. Sie unterstützte mehrere miteinander verwandte Familien, die jüdisch waren oder jüdische Wurzeln hatten und sich in nationalsozialistischer Zeit durchschlugen, dabei in ihrem Alltag schließlich auch bedroht von der Deportation in ein KZ. Die Helferin in der Not beschaffte nicht nur Lebensmittel und Geld. Sie zweigte für den Personenkreis, dem sie im Verborgenen zur Seite stand, aus ihrem Ladenbestand immer wieder auch Tabakwaren ab, die von ihren Schützlingen „unter der Hand“ verkauft werden konnten - zu Schwarzmarktpreisen. Die Hilfe, zu der sie sich entschlossen hatte, war in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes (natürlich) gesetzlich strikt verboten und erfüllte den damaligen Straftatbestand der so genannten „Judenbegünstigung“ - und Paula Hülle wusste, dass sie ihr Leben riskierte.


Die Namen zweier Jugendfreundinnen, denen sie unter dem Naziterror von Anfang an half, sind bis heute belegt: Charlotte Schäfer (* 1907, Sterbejahr unbekannt) und Margot Schwersinski (* 1908, Sterbejahr unbekannt) - und die bereits genannte Jutta Schäfer (* 1929, Sterbejahr unbekannt) war deren Tochter bzw. deren Nichte.

Bestechung, um Menschenleben zu retten
Die bereits beschriebene Hilfe zu leisten, erwies sich im Laufe der 30er Jahre und in späterer Zeit aufgrund der stark gestiegenen Zahl an antisemitischen Gesetzen und Verordnungen durch das NS-Regime und der schließlich einsetzenden systematischen Deportationen als immer schwieriger. Paula Hülle, die nie aufgab, entschloss sich nach den rassistischen Pogromen im November 1938 dazu, einen ihrer Kunden in alles, was sie tat, einzuweihen und bat ihn zudem um seine Hilfe. Der Mann hieß Karl Bratzke (* 1866, † 1946) und besaß ebenfalls einen Tabakwarenladen, der sich in der Grünberger Straße befand - und damit ebenfalls im Stadtteil Friedrichshain, südlich vom Frankfurter Tor und nur einen kurzen Fußweg entfernt von dem Laden, den wiederum die mit ihm bekannte Widerstandskämpferin führte. Sie vertraute ihm, war sich zugleich aber der sehr, sehr konkreten Gefahr bewusst, die damit verbunden war, ihm von ihren Taten für Charlotte Schäfer und für Margot Schwersinski sowie deren Familien und auch für andere Mitmenschen zu berichten: Der Mann war Ortsgruppenleiter der NSDAP.

Die Bestechung dieses stramm überzeugten Nationalsozialisten erwies sich seit dem Herbst 1938 immer wieder als entscheidende Hilfe. Woche für Woche ließ die unermüdliche Paula Hülle ihm Geld zukommen - und sie gewährte ihm zudem weitere Vergünstigungen, um alle Personen, denen sie half, auch weiterhin beschützen zu können. Karl Bratzke verzichtete im Gegenzug für mehrere Jahre darauf, wiederholten Denunziationen etwa aus der Nachbarschaft nachzugehen, und warnte Paula Hülle zudem vor bevorstehenden Deportationen - so zumindest sagte der Nazi nach dem Ende des NS-Regimes aus, als er zu seiner Parteilaufbahn in der NSDAP vernommen wurde.

Deportation nach Theresienstadt - Flucht aus Berlin
Die Wege von Charlotte Schäfer und von Margot Schwersinski trennten sich schließlich. Frau Schwersinski und ihre Familienangehörigen befolgten im Juni 1942 den gegen sie ausgesprochenen Deportationsbefehl - und dies, obwohl Paula Hülle sie inniglich darum bat, in Berlin „unterzutauchen“, wozu sie bereits ein Versteck vorbereitet hatte. (Das Grauen, das nach einer Deportation in den Ghettos und in den Konzentrationslagern des NS-Regimes wartete, war der jüdischen Bevölkerung bis zu dieser Zeit noch weithin verborgen geblieben.) Paula Hülle setzte gleichwohl ihre Hilfe fort und ließ ihrer deportierten Freundin und deren Familie immer wieder Lebensmittel in das Ghetto Theresienstadt zukommen - bis der Kontakt im September 1944 abbrach.


Charlotte Schäfer und ihre Familie dagegen ließen sich von Frau Hülle schließlich dazu überreden, Berlin am Ende des Jahres 1943 vorerst zu verlassen - und dies bedeutete angesichts immer zahlreicherer Deportationen an der jüdischen Bevölkerung die Rettung. Die Familie kehrte erst im April 1944 in die damalige Reichshauptstadt zurück, nachdem mehrere Monate vergangen waren - und nachdem der schon genannte Karl Bratzke, inzwischen aufgestiegen zum NSDAP-Kreisleiter, mitgeteilt hatte, dass die Lage etwas sicherer als zuvor war. (Das Detail, das mit Blick auf die Familie von Charlotte Schäfer zu berichten bleibt: Sie war mit einem unter dem NS-Regime als „arisch“ kategorisierten Ehemann verheiratet und hatte daher geglaubt, von den Deportationen verschont zu bleiben.)

Spuren - in Chicago, in Jerusalem, nicht aber in Berlin
Details zu den weiteren Lebenswegen sind in nur geringer Zahl bekannt geworden. Paula Hülle lebte in den 60er Jahren in bitterer Armut in der DDR bzw. in Ost-Berlin, als die von ihr einst gerettete Jutta Schäfer sie ausfindig machen konnte - und dies von Chicago aus, wohin sie nach dem Jahr 1945 ausgewandert war, um einen Neuanfang zu wagen. Paula Hülle schaffte es schließlich, aus der DDR der an sie ausgesprochenen Einladung zu folgen. Sie besuchte nun jene Frau in den USA, der sie in deren jugendlicher Zeit unter dem Naziterror das Leben hatte retten können - und Jutta Schäfer setzte sich nach ihrem Wiedersehen dafür ein, dass die so mutige Widerstandskämpferin in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt wurde, was am 5. Januar 1971 geschah.

Dankbarkeit wurde der Retterin aus einstiger Zeit schließlich auch auf unvermutete Weise zuteil: Die Jüdische Gemeinde von Chicago übernahm die Kosten für einen Wohnplatz, den Paula Hülle in einer Pflegeeinrichtung erhielt - bis an ihr Lebensende. Sie verbrachte ihren Lebensabend daher dauerhaft in den USA (und dies vermutlich seit dem Jahr 1976) und verstarb im Jahr 1992.

Die Geschichte der Frauen ist geblieben und bis heute bezeugt - dies aber nur in Yad Vashem, nicht in Berlin, wo sie sich zugetragen hatte. Das Haus in der Rigaer Straße, in dem Paula Hülle einst ihren Tabakwarenladen besaß und ihre umfassende Hilfe organisierte, befindet sich nahe dem heutigen Bersarinplatz - und nichts erinnert hier an jene Frau, die einst aus Mitmenschlichkeit in den Widerstand gegen das NS-Regime gegangen war. Schlingpflanzen ziehen sich über die gesamte Hausfassade der mehrgeschossigen Rigaer Straße 103 - ebenso wie diverse Graffiti im Erdgeschoss, in dem sich in einstiger Zeit vermutlich der Laden von Paula Hülle befand.


Der Name eines alternativen Clubs, der heute hier beheimatet ist, befindet sich an der Haustür: „Filmrisz“, geöffnet Tag für Tag ab 20:00 Uhr - und zwar „bis sonstewann“, wie es auf seiner Website im besten hauptstädtischen ‚Slang‘ heißt. (Kino oder Kneipe...? Kneipe oder Kino...? Der „Filmrisz“-Club ist mit seinem programmatischen Namen vermutlich beides.) Die Tatsache aber schmerzt, dass in ihrem heimatlichen Kiez nichts an die auch filmreife, beispiellos mutige Geschichte von Paula Hülle erinnert - und daher bleibt vorerst nur die Hoffnung auf eine angemessene Ehrung, die ihr hier eines Tages hoffentlich zuteil werden wird.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im März 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Paula Hülle.

Stephanie Hüllenhagen - Hinterhaus, vierter Stock, ein Zimmer, zwei Frauen

Stephanie Hüllenhagen - Hinterhaus, vierter Stock, ein Zimmer, zwei Frauen

„Fanny“ wurde sie genannt - und ihr Lebensweg seit früher Kindheit war für lange Jahre durchaus typisch für ein Mädchen aus dem „roten Wedding“, in dem sie aufwuchs. Stephanie Hüllenhagen (* 1893, † 1967), geb. Kaiser, wurde in eine sozialdemokratisch eingestellte und engagierte Familie hineingeboren - und diese widersetzte sich dem Nationalsozialismus auch nach dem Ende der Weimarer Republik. Sie selbst wurde Parteimitglied der SPD, wie so viele ihrer Verwandten auch in vorangegangenen Zeiten. Wer aber war diese Frau, die entschlossenen Widerstand gegen den Naziterror leistete?

Arbeiterkind, Schneiderin, Sozialdemokratin - und der Spitzname „Fanny“
Der Spaziergang auf der Suche nach Erinnerungen an Stephanie Hüllenhagen führt in Berlin in den Gesundbrunnen nördlich des heutigen Stadtzentrums, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und bis in die NS-Zeit vor allem „‘ne Arbeitajejend, wa“ - ebenso wie der direkt benachbarte Wedding. Wir wissen von Stephanie Hüllenhagen, dass sie als Schneiderin arbeitete, sich seit jungen Jahren für die SPD einsetzte und seit dem Jahr 1933 allein in der Bellermannstraße 14 lebte, wo heute bereits seit einigen Jahren eine Gedenktafel auf sie hinweist.


Sie bewohnte eine kleine Einzimmerwohnung im vierten Stockwerk des Hinterhauses - und sie fasste im Jahr 1943 den festen Entschluss, wenigstens einen Mitmenschen vor den immer zahlreicher werdenden, systematischen Deportationen der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime bei sich zu verstecken. Sie kontaktierte deshalb schließlich Dr. Helene Leroi (geb. 1894, gest. 1950), geb. Fürst, eine Bekannte aus früherer Zeit, mit der sie durch ihr Wirken für die SPD (lose) bekannt war - und diese flüchtete noch im Januar 1943 zu ihr, nachdem sie bereits ihren Deportationsbefehl erhalten hatte. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt einen bereits bemerkenswerten Lebensweg gegangen: Helene Leroi, geboren in Hamburg, war zuerst als Lehrerin berufstätig gewesen, hatte danach Politikwissenschaften studiert und war im Jahr 1922 promoviert worden. Sie war zuerst Parteimitglied der KPD gewesen, trat im Jahr 1923 jedoch in die SPD ein. Sie arbeitete danach in den 30er Jahren als Stenotypistin in der „Palästina-Treuhandstelle der Juden in Deutschland“, bis sie vom NS-Regime im Jahr 1939 zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde - und diese leistete sie bis zum Jahr 1942.

Die Frauen werden sehr unterschiedlich gewesen sein - hier das zupackende Arbeiterkind, dort die promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie lebten nun gleichwohl gemeinsam Tag für Tag auf engstem Wohnraum miteinander - und Stephanie Hüllenhagen half auf vielfache Weise, darin unterstützt von anderen mutigen Mitmenschen. Rosa Sichting (Lebensdaten unbekannt) etwa, eine Nachbarin aus der Bellermannstraße 14, gab ihr gelegentlich Lebensmittel ab, damit Helene Leroi zu essen bekam. Kurt Kaiser (Lebensdaten unbekannt), der Bruder von Stephanie Hüllenhagen, ging mit der geflohenen Jüdin bisweilen spazieren, damit sie ab und zu der Enge in der Bellermannstraße 14 für eine kurze Zeit entgehen konnte - und seine Tochter, die Medizin studierte, versorgte Helene Leroi, als diese an einer Lungenentzündung erkrankt war. Prof. Dr. Fritz Baade (* 1893, † 1974), vermutlich der Vater der nach Großbritannien geflohenen beiden Kinder von Helene Leroi, half zudem aus seinem türkischen Exil, indem er ihr monatlich 100 Reichsmark zukommen ließ - und gemeinsam gelang es, die versteckte Jüdin zu versorgen, so gut es ging.

Rettungstat im Hinterhaus: Zwei Jahre und vier Monate zu zweit in einer Einzimmerwohnung
Das Unterfangen der Rettung war gleichwohl ein einziges Wagnis - und Stephanie Hüllenhagen bezeichnete sich selbst in viel späterer Zeit deshalb einmal als „Seiltänzerin“. Sie schilderte in der Nachkriegszeit, die beiden Frauen hätten sich trotz aller Sorgen gut verstanden und wieder und wieder sogar „köstlich amüsiert“. Sie brachte der von ihr versteckten Jüdin im Laufe der Zeit sogar zu schneidern bei - und die Beziehung der beiden Frauen zueinander ging so weit, dass Helene Leroi bisweilen Kleideranproben mit der Kundschaft von Stephanie Hüllenhagen durchführte, sofern sie einmal abwesend war.

Gefahr drohte insbesondere durch den Ehemann einer benachbarten Hausbewohnerin, der in der SS war - und wenn dieser sich, beispielsweise an Urlaubstagen, in der Bellermannstraße 14 aufhielt, kam Helene Leroi bei Erna und Paul Bothfeld unter, einem mit ihr gut bekannten Ehepaar. Die Lebensdaten dieser beiden Personen sind nicht mehr bekannt. Wir wissen aber, dass sie Helene Leroi schon zu Beginn ihrer innerstädtischen Flucht zeitweise aufgenommen hatten, bevor deren Weg schließlich zu Stephanie Hüllenhagen führte. 


Die Retterin in der Not und der von ihr versteckte Mitmensch verbrachten zwei Jahre und vier Monate miteinander - zumeist auf allerengstem Raum, gezeichnet von vielen Entbehrungen und immer in Angst, bis zum Kriegsende im Mai 1945. Die Hausgemeinschaft in der Bellermannstraße 14 wusste in dieser Zeit genau, wen Stephanie Hüllenhagen in ihrer winzigen Wohnung versteckte: Helene Leroi konnte schon deshalb nicht unbemerkt bleiben, weil aufgrund der wohnlichen Situation im vierten Stock des Hinterhauses lediglich eine Außentoilette benutzt werden konnte. Die Jahre vergingen, Monat für Monat und Woche für Woche und Tag für Tag - aber niemand beging Verrat, vielmehr wurde Helene Leroi sogar bei alliierten Luftangriffen in die Kellerräume des Hauses mit hineingelassen. Die Erinnerungen von Stephanie Hüllenhagen wirken in dieser Hinsicht fast ein wenig skurril, berichtete sie in der Nachkriegszeit doch, dass Helene Leroi als „Tante Lenchen“ in den Bombennächten die Frauen und die Kinder in der Bellermannstraße 14 beruhigt habe, indem sie Baldrian verteilte und auf diese Weise „bald eine allgemeine Beliebtheit errang.“ Stephanie Hüllenhagen und Helene Leroi überlebten schließlich das NS-Regime.

Nachkriegszeit: Bruch in einer einst festen Bekanntschaft
Das Leben aber blieb hart, unbeschreiblich hart: Das Grauen des II. Weltkrieges traf auch Stephanie Hüllenhagen, die mehrfach von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde. Die Wendungen der deutschen Zeitgeschichte führten zudem bald zum Bruch zwischen ihr und der von ihr versteckten Helene Leroi, die nach dem Kriegsende zuerst ihre beiden Kinder besucht hatte, die einst mit einem Kindertransport aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich entkommen waren. Sie kehrte bald wieder und lebte fortan erneut in Berlin. Die Frauen jedoch sahen sich nach 1945 nur noch selten - und als sich Helene Leroi für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED, gegr. 1946) einzusetzen begann, wandten sie sich voneinander ab. Stephanie Hüllenhagen brachte kein Verständnis für die politische Weltsicht des Mitmenschen auf, für den sie zuvor ihr Leben riskiert hatte. Kommunismus gegen Sozialdemokratie, Sozialdemokratie gegen Kommunismus, auch diese vorerst überwunden geglaubten Gegensätze aus viel früherer Zeit bestimmten die deutsche Nachkriegsgeschichte und spiegelten sich in der Geschichte der beiden Frauen.

Ehrungen zu Lebzeiten und posthum
Helene Leroi verstarb bereits im Jahr 1950. Stephanie Hüllenhagen lebte weiterhin in der Bellermannstraße 14, bis zu ihrem Tod im Jahr 1967. Sie wurde wenige Jahre zuvor, genauer gesagt: im Jahr 1962, durch die „Unbesungene Helden“-Initiative der Jüdischen Gemeinde und im Senats des damaligen West-Berlin geehrt. Die Anerkennung als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem erfolgte posthum im Jahr 2001. Die Gedenktafel, auf der ihre Rettungstat in der Bellermannstraße 14 dokumentiert ist, gibt es vor Ort seit dem Jahr 2003.


Die Erinnerung an Stephanie Hüllenhagen ist also geblieben und auch heute im Stadtteil Gesundbrunnen bezeugt - und am Ende sei aus einem Brief zitiert, den sie nach dem Jahr 1945 an ihre ausgewanderte Schwester in New York schrieb und in dem sie ihren Widerstand gegen das NS-Regime verdeutlichte: „Ich dachte immer: du bist mitschuldig, wenn du das alles geschehen läßt.“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Wedding und Gesundbrunnen, Berlin 2003.

Schwab, Waltraud: Lichtblick im Schattenspiel der Geschichte, in „Frankfurter Rundschau“ (FR), Ausgabe vom 3. November 2001, online eingestellt auf der Website der „Historischen Gesellschaft Eschborn e. V.“.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://www.gedenktafeln-in-berlin.de der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und des Vereins „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ und von Holger Hübner: Eintrag zur Gedenktafel zu Ehren von Stephanie Hüllenhagen

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Eintrag zu Stephanie Hüllenhagen.

Luise Meier - Hausfrau und Fluchthelferin bis in die Schweiz

Luise Meier - Hausfrau und Fluchthelferin bis in die Schweiz

Die Fluchtrouten, die Josef Höfler vom Landkreis Konstanz aus in die sehr nahe Schweiz nutzte,
führten über Feldwege; oder durch Getreidefelder; oder über Lichtungen; oder durch das Unterholz;
oder über Wiesenbäche; oder... Die Zahl der Wege, die er kannte, war groß - und wieder und wieder
gelang es dem bestens ortskundigen Handwerker deshalb, die zuvor bei seiner Ehefrau Elise und ihm
„untergetauchten“ jüdischen Mitmenschen außer Landes zu bringen, immer zu Fuß und fort, nur fort
aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Josef Höfler, der in der Gemeinde Gottmadingen
lebte, nutzte jeden Fluchtweg aus seinem heimischen Landkreis nur einmal, um in der ruralen
Umgebung seines Heimatortes keine sich wiederholenden Spuren entstehen zu lassen. Der
Widerstandskämpfer wurde für seine vielen Rettungstaten im Jahr 1984 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, da er unter dem NS-Regime auf die gerade geschilderte Weise insgesamt ca. 30 Jüdinnen und Juden in die Schweiz gebracht hatte, die auf den beschriebenen Wegen dem Naziterror entkommen waren.

Die Geschichte des Ehepaars Höfler, von Elise (* 1912, † 1991) und von Josef (* 1911, † 1994), ist
noch in der gegenwärtigen Zeit tief beeindruckend - und sie reichte unter dem NS-Regime aus deren
badischer Heimat bis nach Berlin, also in die damalige Reichshauptstadt. Die Eheleute Höfler waren
ab dem Jahr 1943 gleichsam die (sehr beweglichen) „Gliedmaßen“ in der Widerstandsgruppe eines
organisatorischen „Kopfes“, der alle Fluchtbewegungen mit der gebotenen Sorgfalt vom Stadtteil
Grunewald in Berlin aus plante - fernab der süddeutschen Staatsgrenze zur Schweiz bzw. beinahe
800 Kilometer entfernt von der Gemeinde Gottmadingen.

Mutter und Hausfrau - und im Widerstand
Luise Meier (* 1885, † 1979), geb. Bemm wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert im südwestfälischen Vorhalle geboren, das im Jahr 1929 in die Stadt Hagen eingemeindet wurde. Sie war damit ein Kind des Ruhrgebiets - und sie heiratete Karl Meier (Lebensdaten unbekannt), einen Kaufmann, mit dem sie noch vor 1910 nach Soest zog, wo sie bis zum Jahr 1918 die gemeinsamen vier Söhne zur Welt brachte. Die Familie, in der sich Luise Meier ganz den Aufgaben einer Mutter und einer Hausfrau widmete, zog danach im Jahr 1930 nach Köln bzw. im Jahr 1936 nach Berlin. Familie Meier wohnte hier schließlich im Stadtteil Grunewald bzw. in der Taubertstraße 5 - in einem mehrgeschossigen Haus aus der Gründerzeit des vorangegangenen 19. Jahrhunderts.


Die Einstellung des Ehepaares zum immer weiter erstarkenden NS-Regime war eindeutig - und dies
zudem von Beginn an: Luise und Karl Meier lehnten den Nationalsozialismus strikt ab, für beide
römisch-katholische Eheleute auch eine Einstellung aus dem christlichen Glauben. Die vierfache
Mutter, deren Söhne nach und nach das volljährige Lebensalter erreichten, lebte auch in Berlin als
Hausfrau. Das Leben nahm unter dem Naziterror gleichwohl eine tiefe Wendung, gelang es ihr doch
im Laufe der Zeit mit viel Mut, großer Umsicht und nach und nach, im Widerstand ein festes
Fluchthilfenetzwerk zu organisieren, das zahlreichen Jüdinnen und Juden dabei half, in das Ausland
zu entkommen.

Der Kontakt mit einer Nachbarin stand am Beginn der beschriebenen, lebendrettenden Hilfe - und dies
im Jahr 1941. Fedora Curth (Lebensdaten unbekannt), die Jüdin war, besaß eine Pension in demselben Haus, das auch Luise Meier bewohnte. Jüdinnen und Juden lebten in recht hoher Zahl bei Frau Curth, in deren Zimmern in der Taubertstraße 5 sie vor allem aber darauf hofften, das Deutsche Reich verlassen zu können - bis die Einrichtung unter dem Naziterror im Jahr 1941 zwangsweise geschlossen wurde. Luise Meier leistete zu dieser Zeit bereits seit einigen Jahren viele nachbarschaftliche Hilfen für jüdische Mitmenschen - und schließlich erreichte sie die Nachricht, dass Fedora Curth im Herbst 1942 in die Schweiz hatte fliehen können. Die vormalige jüdische Nachbarin, mit der Frau Meier für lange Zeit eng vertraut gewesen war, hatte es geschafft, den Kanton St. Gallen zu erreichen. Wagemut war dabei entscheidend gewesen: Sie war - wenige Jahre nach dem so genannten österreichischen „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich - vom vorarlbergischen Bregenz aus durch den Alten Rhein geschwommen, um dem NS-Regime zu entkommen.


Luise Meier forschte ihr deshalb von Berlin aus nach, weil sie sich dazu entschlossen hatte, ein mit ihr bekanntes jüdisches Ehepaar auf demselben Weg in die Schweiz zu bringen - was ihr schließlich auch gelang. Herta und Felix Perls waren die Eheleute, die zeitweise versteckt in der Wohnung von Frau Meier lebten und denen die von der Widerstandskämpferin sorgsam organisierte Hilfe galt - und diese leistete sie auch aus tiefer Dankbarkeit. Das Ehepaar Perls hatte sich zuvor um den schwer erkrankten Ehemann von Luise Meier gekümmert, bis zuletzt.

Tod des Ehemannes und zweier Söhne, vor allem aber: Fluchthilfe
Das Leben in den Jahren des II. Weltkrieges war auch für Luise Meier unbeschreiblich hart. Karl Meier erlag im Jahr 1942 einem schweren Krebsleiden - und zwei Söhne des Ehepaares fielen als Soldaten an der Front. Luise Meier war eine leidgeprüfte Frau, setzte ihren schon zuvor begonnenen Kampf gegen das NS-Regime jedoch fort - mit aller Entschlossenheit. Der Tod von zweien ihrer vier Söhne war in verschiedener Hinsicht zu einem einschneidenden Erlebnis geworden. „Ich hatte zwei prachtvolle Söhne, die als Offiziere an der deutschen Ostfront eingesetzt waren. Beide sind gefallen. Neben der Trauer quält mich aber auch der Gedanke, dass sie, wenn mit Sicherheit auch gegen ihren Willen, durch die Umstände der Zeit vielleicht ebenfalls an Judenmorden beteiligt gewesen sein könnten. Ich möchte daher durch einen bescheidenen Beitrag etwas für die Rettung der Juden tun“, antwortete sie noch in nationalsozialistischer Zeit auf die Frage eines jüdischen Fluchthelfers nach dem Beweggrund für ihren Widerstand.

Sie wurde im Laufe der Zeit immer wieder kontaktiert - insbesondere von verzweifelten Jüdinnen und
Juden aus dem hauptstädtischen Untergrund und schließlich sogar vom Internationalen Roten Kreuz.
Die Bitte, mit der immer mehr Mitmenschen zu ihr kamen, war immer dieselbe: Fluchthilfe aus dem
nationalsozialistischen Deutschen Reich ersehnten sie - und Luise Meier half, wie sie nur konnte und mit all ihrer Tatkraft.


Das Netzwerk, auf das sie sich dabei verlassen konnte, entstand im April 1943 bei Konstanz. Luise
Meier begleitete zu diesem Zeitpunkt die mit ihr kaum bekannte Lotte Kahle (geb. 1913, gest. 2020)
auf deren Flucht mit der Eisenbahn in das badische Singen - und in Gottmadingen (und damit im
Landkreis Konstanz) begegneten die beiden Frauen schließlich Elise und Josef Höfler. Das Ehepaar
verhalf Frau Kahle schließlich zur Flucht durch den Wald in die sehr nahe Schweiz - und dieses
Vorgehen, einmal erfolgreich, sollte sich in den folgenden Monaten noch oft wiederholen, fortan in
immer engerer Abstimmung. Die Widerstandskämpferin aus Berlin und das mit ihr verbündete badische Ehepaar konnten auf diese Weise neben anderen verfolgten Mitmenschen auch Herbert Strauss (geb. 1918, gest. 2005) retten, den Verlobten von Lotte Kahle. Das Paar heiratete im Jahr 1944 - und ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte in viel späterer Zeit ist bedeutsam: Herbert Strauss war als Historiker maßgeblich an der Gründung des „Zentrums für Antisemitismusforschung“ (ZfA) der Technischen Universität Berlin beteiligt, als dessen erster Direktor er von 1982 bis 1990 fungierte.

Schienen- und Wanderwege bis zur Schweiz
Luise Meier nutzte ab dem April 1943 über ein Jahr lang immer wieder die Eisenbahn von Berlin aus,
um weitere Jüdinnen und Juden nach Singen zu begleiten oder ihnen zumindest die Reise dorthin zu
organisieren. Willy Vorwalder (Lebensdaten unbekannt), als Elektromonteur ein Kollege von Josef
Höfler, stand vor Ort jeweils am Bahnhof bereit und brachte - wenn die für die Flucht jeweils detailliert abgesprochenen Schritte befolgt wurden - die fliehenden Mitmenschen dann umgehend zum EhepaarHöfler in die Gemeinde Gottmadingen. Herr Vorwalder und Herr Höfler waren beide nicht an der Front: Die Männer waren in einem Walzwerk der Metallindustrie beschäftigt und leisteten damit so genannte „wehrwichtige“ Arbeit - und dass sie in den Widerstand gegen das NS-Regime gegangen waren, blieb ihrem jeweiligen Lebensumfeld verborgen.

Josef Höfler war es dann, der - wie schon geschildert - immer wieder voranging und die Jüdinnen und
Juden zu Fuß bis in die Schweiz brachte, einzeln oder in kleinen Gruppen. Die Fluchten vom Obdach
des Ehepaars Höfler in der Gemeinde Gottmadingen aus geschahen zudem nicht unbedingt „bei Nacht und Nebel“. Josef Höfler wanderte mit seinen Schützlingen oftmals vielmehr auch bei Tag durch die nahe Natur und beantwortete gelegentliche Fragen aus der Nachbarschaft mit dem Hinweis, er gehe auf einen Sonntags- oder auf einen Feiertagsausflug. Die Hilfe für ihre in Not geratenen, verzweifelten Mitmenschen ließ sich das Ehepaar Höfler von diesen selbst, wie ebenfalls zu schildern ist, gut bezahlen - anders als Luise Meier, die jene, die sich ihr anvertrauten, lediglich um Geld für die erforderlichen Eisenbahnfahrkarten bat. Der Plan, den die Gruppe zwischen Berlin und dem südlichen Baden zur Flucht in die Schweiz absprach, ging immer wieder auf - bis zum Mai 1944.

Luise Meier, die das Fluchthilfenetzwerk nach wie vor von Berlin aus organisierte, wurde verhaftet,
nachdem sie von einer zuvor gleichfalls festgenommenen jüdischen Frau in der polizeilichen Vernehmung namentlich als Fluchthelferin benannt worden war. Die Frau war Mitreisenden in der Eisenbahn durch ihr Verhalten, aber auch durch ihre zahlreichen Gepäckstücke aufgefallen - und die Verhaftungen folgten, auch Josef Höfler und Willy Vorwalder wurden gefangen genommen.

Prozesse, in denen gewiss Todesurteile der NS-Unrechtsjustiz gefällt worden wären, wurden gegen
Luise Meier und ihre beiden Helfer gleichwohl bis zum Ende des NS-Regimes nicht mehr geführt. Der
Grund für die ausgebliebenen Gerichtsverhandlungen konnte in der geschichtswissenschaftlichen
Literatur über Luise Meier nicht eindeutig belegt werden. Die Akten über die genannten Gefangenen
könnten im Februar 1945 verbrannt sein, da bei einem damaligen alliierten Luftangriff auf Berlin auch der nationalsozialistische „Volksgerichtshof“ getroffen wurde und sehr schweren Bombenschaden zu verzeichnen hatte. Die Zahl der Prozesse bzw. Schauprozesse unter dem Naziterror war zudem seit dem 20. Juli 1944 und dem damaligen Militärschlag gegen Adolf Hitler zu jedem Zeitpunkt sehr hoch - wobei es dem NS-Regime nicht mehr gelang, alle Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, die es jagte oder bereits gefangen genommen hatte, noch vor Gericht zu stellen bzw. zum Tode verurteilen zu lassen und zu ermorden. Das allgemein zunehmende Chaos in der damaligen Reichshauptstadt mochte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass die Gerichtsakten zur Gruppe um Luise Meier schließlich nicht mehr auffindbar waren: Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und die Schlacht um Berlin nahten Tag für Tag und Stunde um Stunde - und der damit verbundene Zusammenbruch erfasste auch die staatliche Verwaltung. Luise Meier und ihre beiden Helfer wurden fast ein Jahr nach ihrer jeweiligen Festnahme am Ende des II. Weltkrieges aus der Haft befreit - und sie überlebten den Naziterror um sehr lange Zeit.

Lebensrettungen in großer Zahl, verspätete und unvollständige Ehrung
Die Anerkennung blieb der unbeschreiblich mutigen Luise Meier und ihrer Widerstandsgruppe lange
jedoch verwehrt bzw. erfolgte für die Widerstandskämpferin und ihre organisatorischen Glanzleistungen erst nach ihrem Tod. Josef Höfler wurde, wie bereits geschildert, im Jahr 1984 mit
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - wenige Jahre vor seinem Tod und als einzige Person des
einstigen Fluchthilfenetzwerkes, das von Luise Meier organisiert worden war. Die Hausfrau selbst
lebte seit der Nachkriegszeit wiederum in Soest, also in der alten Heimat, wo sie im Jahr 1979 als
greise Frau verstarb und wo seit dem Jahr 2011 der Luise-Meier-Weg an sie erinnert. Sie war zuvor
(und ebenfalls posthum) in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt worden - im Jahr
2001, ebenso wie die Eheleute Höfler.

Das Gedenken an ihrem einstigen Wohnsitz in Berlin jedoch fehlt noch heute: Die Taubertstraße liegt
still im Stadtteil Grunewald - und nichts deutet am Haus Nr. 5 oder an irgendeinem anderen
hauptstädtischen Ort auf das für mehrere Jahre so segensreiche Wirken von Luise Meier hin, eine Gedenktafel oder anderweitige Ehrung für sie gibt es in ganz Berlin nicht. Das Haus, in dem Luise
Meier ihre zahlreichen Rettungstaten plante und von dem aus sie bei jeder Flucht auch jeweils den
ersten Schritt ging, ist damit einer der „weißen Flecken“ auf der Landkarte der deutschen Gedenkkultur geblieben - obwohl das Geschehen in diesem Haus inzwischen im Detail rekonstruiert
werden konnte. Das hier ausgebliebene Gedenken spiegelt in gewisser Hinsicht auch die Erinnerungen von Luise Meier, die nach Ende des NS-Regimes aussagte, sie habe gehört, „dass Leute sich später im Haus in Berlin-Grunewald erkundigten, ob ich tatsächlich existiere oder nur ein ‚schönes Märchen‘ sei; in irgendeiner Art anerkannt oder offiziell erwähnt wurde meine Tätigkeit nie.“


Worte der einstigen Widerstandskämpferin gehören auch in die letzten Zeilen dieses kurzen Essays,
zumal mit Blick auf ihren Glauben, denn ein Zitat sagt sehr viel über ihren einstigen Lebensweg aus. Luise Meier schrieb im Jahr 1955: „Im Gegensatz zu meinen Mitgefangenen war ich niemals verzweifelt oder verzagt; obwohl ich an meinem Todesurteil nicht zweifelte, blieb ich heiter und zuversichtlich - gestärkt durch Gebete.“

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im August 2023

Literatur
Battel, Franco: „Wo es hell ist, dort ist die Schweiz“ - Flüchtlinge und Fluchthilfe an der Schaffhauser
Grenze zur Zeit des Nationalsozialismus
, Zürich 2001.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und
Österreicher
, Göttingen 2005.

Krell, Else (Autorin), Schoppmann, Claudia (Hg.): Wir rannten um unser Leben - Illegalität und Flucht
aus Berlin 1943
, Berlin 2015.

Schoppmann, Claudia: Flucht vor dem Holocaust - Risiko Fluchthilfe, in: „Der Tagesspiegel“, Ausgabe
vom 9. Februar 2016.

Schwersenz, Jizchak: Die versteckte Gruppe, Berlin 1988.

Strauss, Lotte: Über dem grünen Hügel - Erinnerungen an Deutschland, Berlin 1997.
Quellen online bzw. auf Websites
Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der
Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Elise und Josef Höfler sowie zu Luise Meier.

Website https://www.gedenkstaette-stille-helden.de der Gedenkstätte Stille Helden: Eintrag zu Luise
Meier
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„Svenska Victoriaförsamlingen“ - Der Kampf einer Auslandsgemeinde

„Svenska Victoriaförsamlingen“ - Der Kampf einer Auslandsgemeinde

Verschlag um Verschlag ließ der Geistliche zimmern, damit er verfolgte Mitmenschen aufnehmen konnte - in der Kirche, für die er verantwortlich war, ebenso wie im nebenan gelegenen Gemeindehaus. Das Jahr 1933 veränderte unter dem schnell erstarkenden NS-Regime alles im Deutschen Reich - auch für die „Svenska Victoriaförsamlingen“ in Berlin, jene schon traditionsreiche schwedische Kirchengemeinde, die bereits drei Jahrzehnte zuvor in der damaligen Reichshauptstadt gegründet worden war. Birger Forell (* 1893, † 1958), von dem im einleitenden Satz die Rede war, fungierte bereits seit dem Jahr 1929 als ihr Pfarrer.

Das Wirken des schwedischen Geistlichen und seiner beiden Amtsnachfolger sollte sich unter dem NS-Regime als ein besonderer Segen für sehr viele Mitmenschen erweisen, denen die drei Pfarrer das Leben retten konnten. Die Zahl der Verfolgten, die durch die Gemeinde aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich geschleust wurden, konnte auch nach 1945 nie genau ermittelt werden, aber sie war hoch - sehr, sehr hoch. Die Geschichtsforschung geht davon aus, dass mehrere hundert Menschen von ihr aus der Deportation in die nationalsozialistischen Konzentrationslager entgingen, vor allem Jüdinnen und Juden, die in Berlin in den Untergrund gegangen waren. Die Spurensuche führt dabei zuerst in die Zeit der Weltwirtschaftskrise und in den Stadtteil Wilmersdorf.


Berlin im so unruhigen Jahr 1929: Die „Goldenen Zwanziger“ sind gleichsam schon vor dem Ende des Jahrzehnts vergangen - wenn sie denn jemals golden waren. Das Leben sehr vieler Menschen war auch in Berlin ein unbeschreiblich harter Kampf - tagein, tagaus und Jahr für Jahr. Armut und zunehmende Arbeitslosigkeit bestimmten den für zahllose Menschen oftmals elenden Alltag in dem brodelnden Moloch von Reichshauptstadt - und dies in der politisch immer instabiler werdenden Weimarer Republik. Birger Forell trat zu diesem Zeitpunkt seinen Dienst auf der Pfarrstelle der schwedischen Kirche an. Die Gemeinde existierte bereits seit dem Jahr 1903, war zuerst jedoch ohne eigenen Kirchenbau entstanden und hatte deshalb unter dem Obdach mehrerer anderer Kirchengemeinden in Berlin existiert. Die „Victoria“-Kirche konnte schließlich im Stadtteil Wilmersdorf erbaut und im Jahr 1922 eingeweiht werden. Sie war nach der damaligen schwedischen Kronprinzessin benannt worden, also nach Viktoria von Baden (* 1862, † 1930), die in die Dynastie Bernadotte und somit in die schwedische Königsfamilie eingeheiratet hatte.


Heimat eines kirchlichen Bollwerks gegen das NS-Regime: Die Landhausstraße in Wilmersdorf
Die sehr beschauliche Landhausstraße im Stadtteil Wilmersdorf war seit den 20er Jahren die feste Heimat der „Svenska Victoriaförsamlingen“ im damaligen „Groß-Berlin“ - und sie ist es noch immer. Der Kirchturm aus einstiger Zeit sieht auch heute auf die Landhausstraße und ihre nahe Umgebung. Die Gemeinde befindet sich nur wenige Schritte in westlicher Richtung entfernt von der nahegelegenen, parallel verlaufenden Kaiserallee, die erst im Jahr 1950 in Bundesallee umbenannt werden sollte.

Birger Forell, geboren im ostschwedischen Söderhamn am „Bottnischen Meerbusen“, war im Jahr 1919 für sein Theologiestudium in das Deutsche Reich gekommen. Die Zeit als Student hatte ihn nach Tübingen und nach Marburg geführt, also an zwei traditionsreiche theologische „Hochburgen“ unter den protestantischen Universitätsstädten. Der Einschnitt in seinem Lebensweg muss durch den Neuanfang in Berlin im Jahr 1929 sehr tief gewesen sein - und dies nicht nur, weil der raue Alltag der riesigen Metropole mit seinem vorherigen Leben in Tübingen und in Marburg kaum vergleichbar gewesen sein wird. Die Weltwirtschaftskrise bestimmte sein berufliches Handeln auf der neuen Pfarrstelle in sehr konkreter Weise, denn auch viele seiner Landsleute wurden im Berlin der so wechselvollen 20er Jahre erwerbslos und verarmten. Die evangelische Auslandsgemeinde der hier lebenden Schwedinnen und Schweden wurde zu einer kirchlichen Heimstatt vieler verschiedener Hilfen und dabei auch von Spendenleistungen für bedürftige Mitmenschen - und sie wandelte sich ab dem Jahr 1933 zudem zu einem Zentrum des kirchlichen Widerstands gegen das NS-Regime.

Fluchthilfe und viele gerettete Menschenleben seit dem Jahr 1933
Birger Forell lehnte den Nationalsozialismus strikt ab - und entsprechende Kontakte zur regimekritischen „Bekennenden Kirche“, die im Jahr 1934 entstand, knüpfte er bereits zu einem frühen Zeitpunkt. Die Hauptaufgabe seines geistlichen und seines widerständigen Wirkens blieb gleichwohl die „Svenska Victoriaförsamlingen“. Der Geistliche war ein weitsichtiger Mann: Die schon zuvor geleistete Hilfe seiner Gemeinde wurde erweitert, worin Birger Forell erneut voranging. Die Kirche und auch ihr Gemeindehaus wurden durch die schon beschriebenen Baumaßnahmen bald zu einem Versteck für rassistisch und / oder politisch verfolgte Mitmenschen - und insbesondere Fluchthilfe wurde hier organisiert, um aus dem Deutschen Reich zu entkommen. Menschen, die vor der Nazityrannei fliehen mussten (und dabei vor allem Jüdinnen und Juden aus der Reichshauptstadt), kamen im Verlauf der 30er Jahre in immer größerer Zahl in der „Svenska Victoriaförsamlingen“ unter, für einen oder auch für mehrere Tage. Birger Forell führte seinen Kampf gegen das NS-Regime auf vielfache Weise, wobei selbst die hintersten Winkel der Kirchenbauten genutzt wurden: Die vielen neueingezogenen Wände in den Verschlägen, die er hatte einrichten lassen, dienten etwa als Versteck für diverse Dokumente, darunter immer wieder auch Unterlagen der „Bekennenden Kirche“. Jahr für Jahr stellte sich der zupackende Pfarrer vor die zu ihm geflohenen Mitmenschen und organisierte für sie gefälschte Personaldokumente, Lebensmittel und Kleidung - bis das NS-Regime veranlassen konnte, dass er im Jahr 1942 nach Schweden abberufen wurde. Der Geistliche wurde sodann im Jahr 1943 mit der Betreuung von deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien beauftragt - ein Dienst, den er auch nach Ende des II. Weltkrieges weiterhin leistete. Birger Forell, der sich zudem immer wieder für die internationale Flüchtlingshilfe einsetzte, wurde im Jahr 1955 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet und starb schließlich im Jahr 1958 in seiner schwedischen Heimat.


Erik Perwe (* 1905, † 1944), der aus dem südschwedischen Karlskrona stammte, wurde im Jahr 1942 zum neuen Pfarrer für die schwedische Kirchengemeinde in Berlin ernannt - und er leistete von Anfang an, was schon Birger Forell auf sich genommen hatte. Lebensmittel bekamen die von im versteckten Mitmenschen ebenso wie gefälschte Personaldokumente und gefälschte behördliche Bescheinigungen, um in das Ausland fliehen zu können - fort, nur fort aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnerten sich noch mehrere Jahrzehnte danach daran, wie Erik Perwe bisweilen mit einem ganzen Seesack voller gefälschter Reisepässe von seinen Aufenthalten in der schwedischen Heimat nach Berlin zurückkehrte - und wie viele Flüchtlinge in stummer Dankbarkeit zu weinen begannen, wenn seine besonders wertvolle Schmuggelfracht in der Kirchengemeinde verteilt wurde. Monat für Monat verging und die Zahl der erfolgreich geretteten Menschen stieg weiter stetig an.

Hilfe auf verschiedenen Wegen: Polizist Mattick, Polizist Hoffmann und Maria Gräfin von Maltzan
Die Geschichte der schwedischen Auslandsgemeinde in dieser Zeit erfordert aber auch einen kurzen Seitenblick - und dies im wahrsten Wortsinne. Die Geheime Staatspolizei des NS-Regimes hatte die Kirche bzw. das gesamte Gemeindegrundstück (gleichsam ein schwedisches Auslandsterritorium) bereits seit den 30er Jahren und damit seit der Amtszeit von Birger Forell fest im Visier. Die Beobachtungen durch die Gestapo blieben allzu oft jedoch ohne jedes belastbare Ergebnis, auch weil Pfarrer Forell und Pfarrer Perwe zwei Beamte des direkt benachbarten Polizeireviers 155 in der Landhausstraße an ihrer Seite hatten - verborgen zwar, aber fest. Mattick und Hoffmann hießen die Polizisten, die dazu beitrugen, dass sich die Gestapo wieder und wieder vergeblich auf die Lauer legte: Sie ließen den Rollladen am Fenster ihrer Dienststube herunter, sobald die Gestapo die „Svenska Victoriaförsamlingen“ erneut zu observieren begann - ein mit den Pfarrern fest abgesprochenes Zeichen der Warnung.

Die Gestapo nutzte für ihre Beobachtungen eine eigens dafür angemietete Wohnung im Haus direkt gegenüber der „Victoria“-Kirche - und hier befand sich auch das Polizeirevier, in dem wiederholt konspirative Mitarbeit für die Gemeinde geleistet wurde. Mattick und Hoffmann nutzten bisweilen auch ihre Amtsstempel, um durch die Fälschung von behördlichen Schriftstücken zur Fluchthilfe der schwedischen Auslandsgemeinde beizutragen. Die Lebenswege der beiden Polizeibeamten sind nahezu unbekannt geblieben, belegt sind vor allem ihre Familiennamen - und die Tatsache, dass beide im April oder im Mai 1945 in der so blutigen Schlacht um Berlin ihr Leben ließen, kurz vor Ende des II. Weltkrieges.


Die Geschichte der „Victoria“-Kirche in der NS-Zeit ist zudem untrennbar mit Maria Gräfin von Maltzan (* 1909, † 1997) verbunden, die von Pfarrer Myrgren mit hohem Respekt als „Löwin von Berlin“ bezeichnet wurde. Sie lebte keine eineinhalb Kilometer entfernt vom Gemeindegebiet in der Detmolder Straße 11 und damit ebenfalls im Stadtteil Wilmersdorf. Die Gräfin widersetzte sich dem NS-Regime seit frühester Zeit. Sie wirkte nachweislich ebenfalls im Verborgenen und Seite an Seite mit den schwedischen Geistlichen, um jüdische Mitmenschen vor der Deportation in ein KZ zu bewahren. „Operation Schwedenmöbel“ etwa lautete dabei der Deckname einer besonders riskanten, aber erfolgreichen Rettungsaktion. Staatsangehörige des Königreichs Schweden konnten in der NS-Zeit ihren persönlichen Besitz zu verschiedenen Zeitpunkten in ihr Herkunftsland verschicken lassen - auch um diesen im II. Weltkrieg in Sicherheit zu bringen. Die dabei zu beladenden Möbelkisten wurden von der „Svenska Victoriaförsamlingen“ im Jahr 1944 einmal genutzt, um in ihnen Jüdinnen und Juden sowie politisch Verfolgte zu verstecken, die dann nachts statt des eigentlich vorgesehenen Mobiliars heimlich außer Landes gebracht wurden - getarnt als Fracht aus Kreisen der schwedischen Diplomatie. 

Erik Perwe: Tod in der Ostsee
Das Jahr 1944 brachte dann für die Gemeinde einen tödlichen Wendepunkt, der in der ersten Zeit danach zu purer Verzweiflung geführt haben muss: Erik Perwe starb im Herbst in der Ostsee. Das Flugzeug, das ihn zu neuerlichen Beratungen nach Schweden bringen sollte, stürzte ins Meer, wobei alle Insassen den Tod fanden. Abschuss oder Absturz? Die Frage danach konnte auch in den folgenden Jahrzehnten nie mit voller Gewissheit beantwortet werden.

Bedienstete seiner Gemeinde führten sein segensreiches Wirken fort, etwa Erik Wesslén (* 1917 † 1964), als sein Gemeindesekretär ein sehr enger Vertrauter, sowie Franz Reuter (Lebensdaten unbekannt), der in der Gemeinde als Hausmeister arbeitete. Die „Svenska Victoriaförsamlingen“ erwartete zudem schon bald die Ankunft ihres neuen Pfarrers.

Erik Myrgren (* 1914, † 1996) folgte auf der Pfarrstelle im Stadtteil Wilmersdorf alsbald nach - Schwede auch er, zuvor Seemannspfarrer im deutsch besetzten Stettin und wiederum ein festentschlossener Mann. Der Geistliche berichtete in späterer Zeit, dass er bei seiner Ankunft in der Gemeinde auf vieles vorbereitet war, nicht aber darauf, eine Kirche voller versteckt hier lebender Mitmenschen vorzufinden, denen unter dem NS-Regime nach wie vor die Deportation und der Tod im KZ drohten. Erik Myrgren jedoch setzte die bisher geleistete Fluchthilfe umgehend fort und erwies sich darin als ebenso findig wie Pfarrer Forell und Pfarrer Perwe. Güterzüge etwa wurden in seiner Amtszeit zum Versteck, um Jüdinnen und Juden auf Eisenbahngleisen versteckt bis nach Schweden zu bringen.

Der Untergang des NS-Regimes nahte im Jahr 1945 schließlich immer schneller. Erik Myrgren setzte sich damals (und bis zum Ende) weiter für die Rettung jedes einzelnen Mitmenschen ein, der in der „Svenska Victoriaförsamlingen“ beherbergt wurde - und im März 1945 gelang es ihm sogar, mehrere Jüdinnen und Juden auf dem Luftweg in das rettende Ausland bringen zu lassen. Der Flughafen Tempelhof wurde in Berlin dank gefälschter Personaldokumente zum Ausgangspunkt für die Flucht der zuvor versteckten Gruppe, nur wenige Wochen, bevor die Reichshauptstadt von der „Roten Armee“ erobert wurde.


Die „Svenska Victoriaförsamlingen“ blieb dank der drei Geistlichen sowie ihrer Helferinnen und ihrer Helfer von 1933 bis 1945 in ihrem Widerstand gegen den Naziterror ein bis zuletzt unbezwungenes kirchliches Bollwerk. Die Geschichte der Gemeinde in der NS-Zeit ist auch deshalb so bemerkenswert, weil die „Victoria“-Kirche mitten in der damaligen Reichshauptstadt lag: Das Gemeindegebiet befand und befindet sich keine zweieinhalb Kilometer in südlicher Himmelsrichtung entfernt vom Bahnhof „Zoologischer Garten“ bzw. vom benachbarten Kurfürstendamm.

Kriegsende und Nachkriegszeit: Zerstörung und Wiederaufbau der Kirche - und neuerliche Fluchthilfe
Die Wendung, die durch die Schlacht um Berlin folgte, war schließlich von besonders schwerer, zerstörerischer Kraft: Die Kirche hatte im II. Weltkrieg bis zuletzt nur sehr geringen Bombenschaden davongetragen, wurde kurz vor Kriegsende aber von einer marodierenden Truppe der „Roten Armee“ gezielt niedergebrannt - wobei nur der noch heute existierende Glockenturm unbeschadet blieb. Die Nachkriegszeit stand auch für die schwedische Auslandsgemeinde zuerst deshalb ganz im Zeichen des Wiederaufbaus. Pfarrer Heribert Jansson (* 1919, † 1996) leitete die Gemeinde im damaligen West-Berlin seit dem Jahr 1950 und organisierte den Neubau der einst gesprengten „Victoria“-Kirche, der im Jahr 1955 abgeschlossen wurde.

Die Zivilcourage blieb auch unter dem neuen Geistlichen bestehen. Pfarrer Jansson brachte mehrere Mitmenschen nach dem Mauerbau von Ost-Berlin nach West-Berlin und damit in die Freiheit - jeweils versteckt im Kofferraum seines Autos und über den in Berlin so zentral gelegenen „Checkpoint Charlie“. Die Stasi soll ihm zu verschiedenen Gelegenheiten deshalb sogar bis in die Landhausstraße nachspioniert haben. Das SED-Regime sprach schließlich ein Einreise- und ein Durchreiseverbot für das Staatsgebiet der DDR gegen den schwedischen Geistlichen aus, der bis zum Jahr 1986 auf seiner Pfarrstelle im Stadtteil Wilmersdorf blieb. Fluchthilfe aus der DDR leistete die Kirche aber auch weiterhin, da sich mehrere Gemeindemitglieder dazu entschlossen, die geheime Arbeit fortzusetzen - nach dem Vorbild von Heribert Jansson und der anderen Geistlichen, die für die „Svenska Victoriaförsamlingen“ gewirkt hatten.


Ehrungen in Wilmersdorf - und in Yad Vashem

Stille liegt heute an den meisten Tagen über der „Victoria“-Kirche, deren Gemeindehaus immer mit der blau-goldenen schwedischen Nationalflagge verziert ist. Ehrenzeichen bezeugen die so bewegte Vergangenheit der Kirche und ihrer Nachbarschaft. Die Taten von Pfarrer Forell und von Pfarrer Perwe werden schon seit vielen Jahren mit jeweils einer eigenen Gedenktafel am Gemeindehaus gewürdigt - und beide sind vom schmalen Gehweg vor der Kirche aus gut zu sehen. Mattick und Hoffmann, die beiden Polizisten, die in tiefster Not unter dem NS-Regime halfen, sind daneben auf einer Gedenktafel am Eingangsbereich des Gemeindehauses verewigt. Berlin gedenkt des Lebensweges und des Widerstandes von Birger Forell zudem mit einer Grundschule und mit einem Platz, die (ebenfalls in Wilmersdorf) seinen Namen tragen - jeweils nur einen kurzen Spaziergang entfernt von der schwedischen Kirchengemeinde.

Die Geschichte der „Svenska Victoriaförsamlingen“ und ihrer mutigen Geistlichen in der NS-Zeit ist gleichwohl außerhalb der Landhausstraße bzw. außerhalb des Stadtteils Wilmersdorf selbst in Berlin heute weithin unbekannt. Die Tatsache, dass das Gedenken schon seit langer Zeit in Yad Vashem bewahrt wird, ist auch aus diesem Grunde besonders bedeutsam: Erik Perwe und Erik Myrgren wurden beide (anders als Birger Forell) als „Gerechter unter den Völkern“ anerkannt - posthum im Jahr 2006 bzw. noch zu Lebzeiten im Jahr 1986.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Januar 2023

Literatur
Bautz, Friedrich Wilhelm: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 2, Hamm 1990.

Flohr, Markus: Geheime Fracht nach Schweden, in: „Die Zeit“, Ausgabe vom 21. Januar 2016.

Fraenkel, Daniel / Borut, Jakob (Hgg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern - Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Gross, Leonard: The Last Jews in Berlin, New York 1982. 

Hänsel, Heiko: Interventionisten und Genießer, in: ‚taz‘, Ausgabe vom 13. Juni 2003.

Loscher, Klaus: Birger Forell 1893 - 1958. Zum 100. Geburtstag des „Vaters der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge“, Bayreuth 1993.

Rückert, Ulrike: „Ich bin zu einem präzisen Gewissen erzogen worden“, im „Deutschlandfunk“ als Feature ausgestrahlt am 25. März 2009.
Quellen online bzw. auf Websites
Ekdahl, Sven: Helfer in der Not - Der humanitäre Einsatz der schwedischen Victoriagemeinde in Berlin während der Nazidiktatur, Berlin 2012 (Vortrag in der „Svenska Victoriaförsamlingen, gehalten aus Anlass der damaligen Raoul-Wallenberg-Ausstellung in Berlin, einsehbar auf der Website der Kirchengemeinde.

Website https://righteous.yadvashem.org/, Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“: Einträge zu Erik Perwe und zu Erik Myrgren.

Website https://www.berlin.de/, Einträge zur „Svenska Victoriaförsamlingen“ sowie zur Gedenktafel für Birger Forell und zur Gedenktafel für die ihm helfenden Polizisten.

Website https://svenskakyrkan.se/berlin der „Svenska Victoriaförsamlingen“, Eintrag zur Geschichte der Kirchengemeinde.

Aloisia Tirsch-Kastner, Gerta Bartels, Elsa Danziger und ein Versteck in der Wilhelmsaue

Aloisia Tirsch-Kastner, Gerta Bartels, Elsa Danziger und ein Versteck in der Wilhelmsaue

"Lisl" lautete ihr Spitzname, auch im Berufsleben - und darin war sie über lange Jahre hinweg eine
erfolgreiche Schauspielerin. Aloisia Tirsch-Kastner (* 1894, † 1984) spielte in den 20er Jahren an
verschiedenen Reinhardt-Theatern in Berlin und hatte schließlich mehrere Engagements in
hauptstädtischen Varietés, begleitet von guten Kritiken. Das "Berliner Theater", bekannt vor allem für Operette, unter dem NS-Regime zwangsweise zum "Theater des Jüdischen Kulturbundes" erklärt und
im Jahr 1935 geschlossen, war zudem eine der bekanntesten Bühnen, auf denen Aloisia Tirsch-
Kastner in den frühen 20er Jahren oft zu sehen war.

Sie war seit dem Jahr 1925 in dessen zweiter Ehe mit Bruno Kastner (* 1890, † 1932) verheiratet, der als "der schöne Bruno" zu den beliebtesten Stummfilmstars der damaligen Zeit gehörte. Die
Beziehung des Paares jedoch endete nach wenigen Jahren schrecklich, als sich Bruno Kastner im
Sommer 1932 und im Alter von nur 42 Jahren durch den Strang das Leben nahm - auch weil er sich
nie ganz von den Folgen eines schweren Motoradunfalls aus dem Jahr 1924 erholt hatte.

Schauspielerin - und Widerstandskämpferin
Aloisia Tirsch-Kastner wirkte auch weiterhin als Schauspielerin. Sie wurde nach dem Ende des NS-
Regimes wiederholt von der DEFA engagiert und kehrte zudem zum Theater zurück - und Rollen in
Kinofilmen und in Fernsehproduktionen folgten ebenfalls. Die Zahl ihrer Engagements, zu denen auch
mehrere Sprechrollen in Hörspielen gehörten, nahm seit dem Ende der 50er Jahre jedoch ab, weshalb
sie schließlich in Existenznot auf (finanzielle) Hilfe angewiesen war. Sie verstarb im Jahr 1984 im
damaligen West-Berlin. "Lisl" war tot, nachdem sie bereits zuvor in Vergessenheit geraten war - und
dies ist noch heute bitter, weil der Lebensweg der lange erfolgreichen Schauspielerin auch abseits
ihres künstlerischen Wirkens sehr bemerkenswert ist: Aloisia Tirsch-Kastner war Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime gewesen und hatte dabei in Berlin u. a. sehr wertvolle
Hilfe für ein lesbisches Paar aus ihrer Nachbarschaft im Stadtteil Wilmersdorf geleistet.


Leben und Liebe zweier Frauen

Gerta Bartels (* 1893, † 1968) war Bibliothekarin, Elsa Danziger (Lebensdaten unbekannt) war
Lehrerin - und beide waren ein Paar. Die Frauen lebten seit dem Jahr 1917 unter einer heute nicht
mehr bekannten Adresse gemeinsam in Wilmersdorf, das am 1. Oktober 1920 in das damalige "Groß-
Berlin" eingemeindet und so zu einem neuen Stadtteil der damaligen Reichshauptstadt wurde.

Details über die Lebenswege der beiden Frauen sind lediglich in geringer Zahl bekannt geworden,
doch ist belegt, dass sie unter dem rasch sich etablierenden NS-Regime von Anfang an gezielt
diskriminiert wurden. Frau Bartels wurde im Jahr 1934 zwangsweise versetzt - und daneben wurde ihr
jede berufliche Beförderung dauerhaft verweigert. Frau Danziger wurde im Jahr 1939 aus ihrem Beruf
verstoßen - und erst nach dem Ende des NS-Regimes wirkte sie erneut als schulische Lehrkraft.

Anfeindungen waren Frau Bartels und Frau Danziger unter dem Naziterror als lesbisches Paar, aber
auch wegen des rassistischen Weltbildes des immer stärker werdenden Nationalsozialismus
ausgesetzt: Elsa Danziger war Christin, galt jedoch in der Zeit des NS-Regimes wegen ihrer jüdischen Wurzeln als "nicht-arisch", was konkrete Gefahr für ihr Leben bedeutete. Der Deportationsbescheid gegen sie wurde im April 1942 ausgestellt - und es schlug die Stunde, in der sie innerhalb Berlins "untertauchen" musste.

Aloisia Tirsch-Kastner: Kampf gegen die Nazis nach Mitgliedschaft in der NSDAP
Gerta Bartels brachte ihre Lebensgefährtin zu der mit ihr befreundeten Aloisia Tirsch-Kastner. Die
Schauspielerin lebte in der Wilhelmsaue 128 - und damit innerhalb des Stadtteils Wilmersdorf nur
unweit entfernt von Frau Bartels und Frau Danziger. Sie nahm die rasch zu ihr geflüchtete Nachbarin
sofort bei sich auf und versteckte sie über einen Zeitraum von etwa vier oder fünf Wochen. Die Hilfe,die sie leistete (und mit der sie ihr Leben riskierte), zeugte von beeindruckendem Mut und war zudem wegen des damit verbundenen Wandels auf ihrem Lebensweg sehr bemerkenswert: Aloisia Tirsch-Kastner war bis zum Jahr 1938 in der NSDAP gewesen, hatte die Partei dann aber verlassen und war in den Widerstand gegangen.


Gerta Bartels wurde von der Gestapo vernommen, nachdem Elsa Danziger verschwunden war. Sie
sagte dabei aus, dass ihre Lebensgefährtin beschlossen hätte, sich das Leben zu nehmen - eine
Behauptung, die sie gegenüber der Geheimen Staatspolizei mit einem entsprechend fingierten
Abschiedsbrief glaubhaft zu machen versuchte. Die vorerst versteckte Elsa Danziger kehrte nach
wenigen Wochen von Aloisia Tirsch-Kastner zu Gerta Bartels zurück und lebte von nun an dauerhaft
im Verborgenen bei ihrer Lebensgefährtin, die zudem ihre sehr knapp bemessenen Lebensmittelrationen mit ihr teilte - bis zum Ende II. Weltkrieges. Das Paar und auch die Schauspielerin, die ihm zur Seite gestanden hatte, überlebten das NS-Regime - und die Anerkennung für ihre Taten unter dem Naziterror folgten beinahe eineinhalb Jahrzehnte nach dessen Ende: Gerta Bartels und Aloisia Tirsch-Kastner wurden im Jahr 1959 beide in der „Unbesungene Helden“-Initiative des Senats im damaligen West-Berlin ausgezeichnet.

Gerta Bartels hatte sich dem NS-Regime sehr entschlossen widersetzt - und dies u. a., indem sie
nach den antisemitischen Pogromen vom 9. November 1938 zeitweise drei Juden bei sich
aufgenommen und in späterer Zeit einer geflohenen Frau mit gefälschten Personaldokumenten
geholfen hatte. Aloisia Tirsch-Kastner hatte außer Elsa Danziger zeitweise auch mehrere andere
verfolgte Mitmenschen bei sich versteckt und zudem mit Lebensmitteln versorgt und war unter dem
Naziterror nach eigenen Angaben wiederholt von der Geheimen Staatspolizei vernommen worden.

Fallbeispiel des ausgebliebenen Gedenkens: Die Wilhelmsaue 128
Die Wilhelmsaue liegt auch heute im Herzen des Stadtteils Wilmersdorf und ist vor allem wegen der
traditionsreichen Auenkirche bekannt, deren Kirchturm aus dem einstigen Dorfanger herausragt und u.
a. am Ende des ersten Romankapitels von "Irrungen, Wirrungen" (1887 / 88) von Theodor Fontane
erwähnt wird. Das mehrgeschossige, alte Mietshaus in der Wilhelmsaue 128 liegt in aller Stille im
Schatten des besagten Kirchturms - und nichts erinnert hier an die Geschichte von Gerta Bartels und
von Elsa Danziger und von Aloisia Tirsch-Kastner, eine Gedenktafel oder anderweitige Ehrung gibt es
nicht.


Die Spurensuche nach den Lebenswegen der drei Frauen gestaltete sich entsprechend schwierig -
und während die Heimatadresse von Frau Bartels und von Frau Danziger innerhalb des Stadtteils
Wilmersdorf unbekannt geblieben ist, findet sich die Wilhelmsaue 128 als Wohnort der Schauspielerin, die ihnen half, nur noch in alten hauptstädtischen Telefonbüchern. Die Zahl der Gedenktafeln in ganz Berlin ist mit Blick auch und gerade auf die NS-Zeit sehr hoch, jedoch gilt dies auch für die Zahl der noch fehlenden Gedenktafeln - und dies zeigt sich auch mit Blick auf das beschriebene Haus im Stadtteil Wilmersdorf.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Juli 2023

Quellen online bzw. auf Websites
Website http://deutsche-filme.com von Sebastian Kuboth: Eintrag zu Aloisia Tirsch-Kastner.

Website https://www.gedenkstaette-stille-helden.de der Gedenkstätte Stille Helden: Einträge zu Gerta
Bartels
und zu Elsa Danziger.

Christine Freifrau von Trümbach - Schauspielerin und Fluchthelferin

Christine Freifrau von Trümbach - Schauspielerin und Fluchthelferin

Der Lebensweg ist weithin unbekannt geblieben - abgesehen von ihrem filmischen Wirken, denn Christine Freifrau von Trümbach (* 1900, † 1979) war Schauspielerin und über mehrere Jahrzehnte hinweg vor der Kamera sehr erfolgreich in vielen Nebenrollen und kurzen Auftritten. „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) von Fritz Lang (* 1890, † 1976) war der bekannteste Film, bei dessen Dreharbeiten sie mitwirkte - wobei sie sich jedoch schwer verletzte und von ihrem Unfall erst nach und nach erholte. Die Karriere beim Film nachzuzeichnen, ist wegen einer geringen Zahl an gesicherten Lebensspuren dennoch schwierig - und noch unbekannter ist (leider) eine sehr, sehr bemerkenswerte Lebensleistung der Mimin geblieben: Christine von Trümbach ging unter dem Naziterror in den Widerstand und leistete lebensrettende Hilfe für mehrere jüdische Mitmenschen.

Schauspielkarriere statt Klosterleben
Der Weg einer leidenschaftlichen Rebellin, bestimmt von rauschender Lebenslust - so wirkt es im Blick auf die wenigen gesicherten Fakten, die über die Schauspielerin bekannt geworden sind. Christine von Trümbach wurde in Essen geboren, war also ein Kind des Ruhrgebiets. Die Lebensplanung der Eltern für sie stand bereits zu einem frühen Zeitpunkt sehr fest: Nonne sollte sie werden. Der Ausbruch folgte - aus der Familie und aus der Heimat: Christine von Trümbach heiratete auch deshalb bereits in jungen Jahren, um dem für sie vorgesehenen Ordensleben zu entgehen - und sie lebte danach zeitweise in Paris. Die Welt der boomenden Kinos zog sie bald in ihren Bann - und deshalb führte ihr Weg schließlich nach Berlin. Sie ging im Jahr 1928 in die damalige Reichshauptstadt, wo sie zuerst zu fliegen lernte, bevor sie sich beim Film bewarb - mit Erfolg. Komparsin wurde ihr erster Beruf vor der Kamera, bevor sie auch Nebenrollen zu spielen begann.


Die zum genannten Zeitpunkt in vielfacher Hinsicht bereits brodelnde Reichshauptstadt blieb ihre Heimat - und der Naziterror griff ab dem Jahr 1933 immer tiefer in die Welt des Films ein, wie auch Christine von Trümbach miterlebt haben muss. „Männer müssen so sein“ (1939) von Arthur Maria Rabenalt (* 1905, † 1993) war eine der bekanntesten Produktionen, für die Christine von Trümbach in der NS-Zeit engagiert wurde. Sie mimte darin eine Zirkusbesucherin und konnte sich gewiss mit der Hauptrolle identifizieren, die mit Hertha Feiler (* 1916, † 1970) besetzt worden war. Feiler, die im Jahr 1939 den schon lange berühmten Heinz Rühmann (* 1902, † 1994) heiratete, spielte eine junge Frau, die mit ihrem Vater brach, weil er ihr verbieten wollte, Balletttänzerin zu werden. Sie jedoch setzte ihren Willen durch und wurde als „La belle Beatrice“ bekannt, die in Zirkusdarbietungen zwischen Tigern zu tanzen pflegte. Der Revuefilm diente der Unterhaltung, doch ist bemerkenswert, dass Hertha Feiler für die Hauptrolle vor der Kamera stehen konnte: Die Schauspielerin galt in der rassistischen Weltsicht des NS-Regimes als so genannte „Vierteljüdin“ und durfte deshalb unter dem Naziterror nur mit einer Sondergenehmigung ihrem Beruf nachgehen. Die Kontakte ihres einflussreichen Ehemannes und ihrer selbst zu Joseph Goebbels (* 1897, † 1945) waren dabei die wesentliche Hilfe, da der nationalsozialistische „Scharfmacher“ bereits seit dem Jahr 1933 das (damals neue) „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ (RMVP) leitete. Die „Zentrale Filmprüfstelle“ unterstand ihm deshalb ebenso wie die staatliche Reichskulturkammer (RKK) und die staatliche Reichsfilmkammer (RFK), bei denen er jeweils als Präsident fungierte.

Arthur Maria Rabenalt wiederum, der für „Männer müssen so sein“ die Regie geführt hatte (und der zuvor bereits an der Entstehung von „M - Eine Stadt sucht einen Mörder“ beteiligt gewesen war), arrangierte sich auf seine Weise mit dem NS-Staat: Die Zusammenarbeit mit Leni Riefenstahl (* 1902, † 20023) bestimmte sein filmisches Wirken in den folgenden Jahren des II. Weltkrieges.

Kontakt zu Adolf Eichmann - und Widerstand
Die zuvor beschriebenen Entwicklungen blieben auch Christine von Trümbach nicht verborgen. Details über das Leben der Schauspielerin in der NS-Zeit sind in sehr geringer Zahl bekannt, eindeutig belegt ist aber, dass sie sich auf besondere Weise für verfolgte jüdische Mitmenschen einsetzte - und zwar durch Kontakte zu führenden Nationalsozialisten. Die Schauspielerin war mit verschiedenen Nazigrößen bekannt - u. a. mit Adolf Eichmann (* 1906, † 1962), der als SS-Oberstammbannführer und Leiter des Referats IV D 4 bzw. IV B 4 im nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die systematischen Massendeportationen der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und in Konzentrationslager organisierte und umsetzte. Die Schauspielerin nutzte daher ihre Beziehungen, um es einigen Jüdinnen und Juden zu ermöglichen, in Berlin „unterzutauchen“. Die Namen und auch die Zahl der jüdischen Mitmenschen, denen sie half, sind unbekannt geblieben, aber fest steht: Christine von Trümbach unterstützte sie beim entscheidenden Schritt zur Flucht in den widerständigen Untergrund der damaligen Reichshauptstadt.

Schauspielerin auch nach 1945 - und „Unbesungene Heldin“
Das Wirken der Schauspielerin im Widerstand wurde deshalb nach dem Ende der NS-Zeit in besonderer Weise anerkannt: Christine von Trümbach wurde im „Unbesungene Helden“-Programm (1958 - 1966) des Senats im damaligen West-Berlin ausgezeichnet. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihre filmische Karriere fortsetzen können und war seit den frühen 50er Jahren für mehrere DEFA-Produktionen engagiert worden sowie für „Der eiserne Gustav“ (1958) mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle. Christine von Trümbach hatte in einem der bekanntesten Filme des so prominenten Schauspielkollegen in einer kurzen Szene eine Zeitungsverkäuferin gespielt.


Der Weg nach dem Ende ihres beruflichen Wirkens und bis in das greise Alter kann mit wenigen Worten zusammengefasst werden: Christine von Trümbach lebte zurückgezogen und starb im Jahr 1979, ebenfalls im damaligen West-Berlin. Die Akten des „Unbesungene Helden“-Programms geben Auskunft über ihren einstigen Wohnort. Sie hatte in der Pfalzburger Straße 84 im Stadtteil Wilmersdorf gelebt, wo jedoch noch heute nichts an die Schauspielerin und ihren Widerstand gegen das NS-Regime erinnert - keine Gedenktafel und keine anderweitige Ehrung. Die Anerkennung, die ihr vor langen Jahrzehnten zuteil wurde, wird eines Tages hoffentlich auch in der hauptstädtischen Gedenkkultur sichtbar werden, denn was Christine von Trümbach für mehrere jüdische Mitmenschen leistete, war weit bedeutender als jedes erfolgreiche Engagement in der Welt des Films.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im Oktober 2023

Literatur
Akten- und Archivbestand des „Unbesungene Helden“-Programms des Senats von West-Berlin (1958 bis 1966).

Kwiet, Konrad / Eschwege, Helmut: Selbstbehauptung und Widerstand - Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933 - 1945, Hamburg 1984.

Riffel, Dennis: Unbesungene Helden - Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.

Herta Zerna - Widerstand durch das einst „schönste Mädchen von Berlin“

Herta Zerna - Widerstand durch das einst „schönste Mädchen von Berlin“

Die Zeitschrift „Der Junggeselle“ (und damit das erste erotische Herrenmagazin der deutschen Zeitgeschichte) bewertete die Kurzgeschichte, mit der sie sich als potenzielle Autorin vorgestellt hatte, als „viel zu keck“. Die so prominente Publizistin, die sie geschrieben hatte, war es jedoch bereits seit jungen Jahren gewohnt, ihren eigenen Weg zu gehen und sich dabei mit viel Tatkraft immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen - auch gegen manch widrigen Umstand, der sie begleitete.

Herta Zerna (* 1907, † 1988), deren Lebensweg der einleitende Textabsatz andeutete, war Journalistin - wobei dieses Berufsziel, das sie sich schon in jugendlicher Zeit gesetzt hatte, für ihren Lebensweg keineswegs vorgezeichnet zu sein schien. Die Geschichte der politischen Publizistin führt auf der Suche nach ihrem Anfang in das nördliche Berlin bzw. in den Stadtteil Moabit und damit in eine alte „Arbeitajejend.“ Die Tochter eines Fabrikschlossers, der in der SPD engagiert war, wuchs in einem mehrgeschossigen Mietshaus in der Rostocker Straße 28 auf - und der raue Kiez rund um den nahegelegenen, industriellen Westhafen war ihre Heimat seit der Geburt.


„Kleines, Sie können schreiben“

Der Ehrgeiz war ihre hervorstechende Charaktereigenschaft, wie sich zu einem frühen Zeitpunkt zeigen sollte. Herta Zerna schloss die Mädchenrealschule mit der „Mittleren Reife“ ab und fand danach bei einer Import-Export-Firma bereits im Alter von 15 Jahren ihre erste Anstellung - und sie nahm zugleich Französischstunden, nachdem sie die Schule bereits beendet hatte. Sie verdiente sich neben ihrem Berufsleben deshalb schon bald ein Zubrot, indem sie Reportagen aus verschiedenen Modemagazinen der 20er Jahre in die deutsche Sprache übersetzte. Das Lob einer vorgesetzten Redakteurin fiel dabei ebenso herzlich wie kernig aus: „Kleines, Sie können schreiben“, bekam sie eines Tages zu hören - und nach und nach fand Herta Zerna den Weg in das mediale Berufsfeld.

Ambitionen hatte sie gleichwohl auch in anderer Hinsicht. Schriftstellerin wollte sie werden, was ihr in viel späterer Zeit auch gelingen sollte. (Der Roman „Es lag bei Rheinsberg“, in erster Auflage im Jahr 1953 erschienen, wurde ihr erstes Buch und ihr bekanntestes Werk.) Die schon zuvor berichtete Ablehnung ihrer ersten Kurzgeschichte spornte sie in viel früherer Zeit zudem dazu an, auch weiterhin zu schreiben, dies vorerst aber wiederum als Journalistin - und so arbeitete Herta Zerna in den späten 20er Jahren in Berlin für die „Filmwoche“ und absolvierte zudem ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt“, das der SPD nahestand. Die Bildquelle, die mit Blick auf den gesamten Lebensweg von Herta Zerna bis heute am bekanntesten geblieben ist, entstand in dieser wechselvollen Zeit. Das Portraitfoto, von dem sie selbst noch oft berichtete, es zeige sie in ihrem „Josephine-Baker-Look“, stammt aus dem Jahr 1928. Das Bild zeigt eine sehr attraktive, junge Frau mit kurzem, modischen Haarschnitt, die aus sanften Augen mit großer Ruhe in die Weite blickt. Herta Zerna galt damals (was in der oftmals sehr, sehr rauen „Muddastadt“ heute kaum noch bekannt ist) als „das schönste Mädchen von Berlin“.


Sie ging von jungen Jahren an in vielfacher Hinsicht einen mehr als bewegten Lebensweg: Der Glaube an eine sozialdemokratische Gesellschaft bestimmte ihr journalistisches Wirken - und wieder und wieder auch der Kampf für die Frauenrechte. Sie brach zudem mit mancher damaligen gesellschaftlichen Konvention - etwa, indem sie die meiste Zeit ungebunden lebte und dies auch blieb, nachdem ihre einzige feste Beziehung im Jahr 1933 beendet war. Arkadij Gurland (* 1904, † 1979), geboren in Russland, hatte als sozialistischer Publizist im Deutschen Reich gelebt - und die jahrelange Bindung zwischen Herta Zerna und ihm zerbrach, als er sich unter dem NS-Regime zu fliehen gezwungen sah und die Frau, die er und die ihn liebte, allein in ihrer Heimat verblieb.

Seitenblick auf die Zeit vor dem NS-Regime: Der Weg der noch jungen Herta Zerna hatte schon mehrere Jahre zuvor aus der damaligen Reichshauptstadt nach Erfurt geführt, wo sie sich treu geblieben war und für mehrere sozialdemokratische Zeitungen publiziert hatte - in der immer instabiler werdenden Weimarer Republik. Der Lebensweg der Journalistin spiegelte auch das medial wie politisch immer weiter verhärtete Kampfgeschehen dieser so unruhigen Zeit. Herta Zerna wurde in Erfurt zu verschiedenen Geldbußen und im Jahr 1930 sogar zu einer vierwöchigen Haftstrafe verurteilt - wobei sie vor dem Gefängnis durch eine Amnestie bewahrt wurde. Sie war in den vorangegangenen Jahren zu einer sehr bekannten Gegnerin der immer weiter erstarkenden Nazis geworden und stand deshalb seit dem Jahr 1933 (nun wiederum in Berlin lebend) unter besonderer Beobachtung des schnell sich etablierenden NS-Regimes bzw. der Gestapo, einhergehend mit wiederholten Verhaftungen und vielen Vernehmungen.

Depressionen, ein Messerangriff - und Hilfe für verfolgte Mitmenschen
Herta Zerna lehnte den Nationalsozialismus auch weiterhin strikt ab und beugte sich nicht, jedoch bestimmten auch Depressionen von nun an ihren Lebensweg - und eine entsprechende nervenärztliche Behandlung, der sie sich unterzog. Das Jahr 1935 führte dabei an einen entscheidenden Wendepunkt, der sie äußerlich entstellte. Herta Zerna wurde von einem sie behandelnden Arzt mit einem Messer angegriffen, wobei ihr ein Auge ausgestochen wurde. Tatmotiv und Tathergang konnten nie eindeutig ermittelt werden. Die Journalistin setzte ihren Kampf gegen das NS-Regime gleichwohl auch nach der beschriebenen, gezielten Messerattacke fort - was mit Blick auch auf die denkbar schwere Gesichtsverletzung, die sie davongetragen hatte, bemerkenswert war.

Sie lebte zu dieser Zeit in der Motzstraße im zentralen Stadtteil Schöneberg von Berlin - und hier, nahe dem pulsierenden Nollendorfplatz, vollbrachte sie eine Rettungstat, die für die hauptstädtische Zeitgeschichte auch in viel späterer Zeit von besonderer Bedeutung sein sollte. Herta Zerna versteckte in ihrer Wohnung aus noch immer fester Verbundenheit zur (längst verbotenen) SPD zeitweise das Ehepaar Suhr, Susanne (* 1893, † 1989) und Otto (* 1894, † 1957). Die Eheleute waren als SPD-Mitglieder vor dem Naziterror gemeinsam in den hauptstädtischen Untergrund geflohen - auch weil die Ehefrau eine Jüdin war. Hilfe leistete die unermüdliche Herta Zerna auf dieselbe Weise auch für mehrere andere politisch verfolgte Mitmenschen, jedoch wurden die Eheleute Suhr nach dem Jahr 1945 die bekanntesten beiden Personen, denen sie unter dem Naziterror zur Seite gestanden hatte. Susanne Suhr wurde im Jahr 1958 zum Mitglied des Abgeordnetenhauses gewählt und blieb dies bis zum Jahr 1963, Otto Suhr fungierte seit dem Jahr 1955 als Regierender Bürgermeister und blieb die bis zum Jahr 1957 - jeweils im damaligen West-Berlin.

Widerstand im „Haus des Rundfunks“ und im ländlichen Brandenburg
Herta Zerna selbst arbeitete ab dem Jahr 1941 im Stadtteil Westend von Berlin für eine wirtschaftspolitische Radiosendung im nationalsozialistischen „Haus des Rundfunks“ - und sie nutzte ihre dortige Position auch zur Weitergabe von ausländischen Nachrichten, was unter dem Naziterror strikt verboten war und mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Sie half zudem einer weiteren Jüdin, deren Familienname Moses lautete und deren Vorname in der Literatur als Margot und als Ruth überliefert ist. Herta Zerna unterstützte sie dabei, im hauptstädtischen Untergrund zu überleben, vermittelte ihr zuerst Arbeit in verschiedenen Nähstuben und verschaffte ihr unter falschem Namen und als Stenotypistin ebenfalls eine Anstellung im „Haus des Rundfunks“ - also in einer seit dem Jahr 1933 „gleichgeschalteten“, medialen Propagandaeinrichtung des NS-Regimes. Die Frau, von der heute nicht mehr mit Sicherheit zu sagen ist, ob sie Margot oder ob sie Ruth hieß, war in den ersten Monaten des Jahres 1943 zu Herta Zerna geflohen - und sie hatte damals mitten in der Nacht an ihrer Wohnungstür geklopft, verzweifelt und auf der Flucht vor dem Naziterror. Die Journalistin hatte ihr bereits mehrere Jahre zuvor angeboten, sich bei ihr zu melden, falls sie einmal Hilfe benötigen sollte - und nun nahm sie den verfolgten Mitmenschen umgehend in ihrer winzigen Einzimmerwohnung auf, die fortan zum Versteck der geflohenen Jüdin wurde, im Wechsel mit der Wohnung anderer hilfreicher Mitmenschen, mit denen Herta Zerna befreundet war.

Der Besitz eines kleinen Hauses im brandenburgischen Kagar, heute ein Ortsteil der Stadt Rheinsberg, ermöglichte es Herta Zerna zudem, ihren so entschlossenen Widerstand gegen die Nazis auch fortzusetzen, nachdem sie im Herbst 1943 in Berlin nach einem alliierten Luftangriff ausgebombt war. Das Haus auf dem Land hatte sie bereits im Sommer 1939 erworben - und nun siedelte sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Kagar über, wo die beiden Frauen bis zum Ende des II. Weltkrieges mehrere politisch Verfolgte ebenso versteckten wie Jüdinnen und Juden, erneut das Ehepaar Suhr und gegen Ende der unerbittlichen Kampfhandhandlungen auch einen desertierten Wehrmachtssoldaten. Herta Zerna ging nach dem Ende des NS-Regimes schließlich zurück nach Berlin und zog damit wiederum in ihre Geburtsstadt, die sie bis zum Lebensende nicht losließ.

Romane, Neubeginn und Bruch mit der SPD und die „Banalität des Guten“
„Euphorie“ empfand sie, wie sie selbst sagte, nachdem der II. Weltkrieg beendet war - und ihr beruflicher Neuanfang erfolgte im Dezember 1945 als Redakteurin für „Die Frau von heute“, also bei einem neugeschaffenen Magazin, das von den so genannten „Frauenausschüssen“ des Magistrats des damaligen Groß-Berlin herausgegeben wurde. Die Verbundenheit zur SPD sollte gleichwohl ihr berufliches Wirken schon bald erneut bestimmen: „Der Sozialdemokrat“ wurde zur Zeitschrift, für die Herta Zerna ab Januar 1947 als stellvertretende Chefredakteurin arbeitete - bis die SPD-Zeitung im Jahr 1951 eingestellt werden musste.

Der Lebensweg der einstigen Widerstandskämpferin nahm danach eine weitere Wendung, mit der sie einen schon lange bestehenden Jugendtraum verwirklichen konnte. Herta Zerna lebte ab den 50er Jahren als Schriftstellerin und begann somit erneut zu schreiben, wobei schließlich mehrere Unterhaltungsromane ebenso zu ihrem literarischen Gesamtwerk gehörten wie zahlreiche Gedichte und Kurzprosa. Die Zeit im hauptstädtischen „Haus des Rundfunks“ unter dem NS-Regime verarbeitete sie in „Ich bin eine unbesungene Heldin oder: Ballade vom kleinen Widerstand“, einem kurzen Werk, das die autobiographische Lesart nahelegt und das in „Darauf kam die Gestapo nicht“ (1966) aufgenommen wurde. Das Buch war ein literarischer Sammelband zum Widerstand gegen das NS-Regime im deutschen Rundfunk, der vom „Sender Freies Berlin“ (SFB) publiziert wurde.

Die Auszeichnungen für ihren Widerstand gegen den Naziterror erfolgten zudem seit den 60er Jahren: Herta Zerna wurde im Jahr 1963 als „Unbesungene Heldin“ durch den Senat im damaligen West-Berlin ausgezeichnet - und Mitte der 70er Jahre auch mit dem Bundesverdienstkreuz. Die Anerkennung als "Gerechte unter den Völkern" durch Yad Vashem erfolgte posthum im Jahr 2021.

Sie verließ spät in ihrem Leben die SPD, frustriert von anhaltenden, immer neuen persönlichen Streitigkeiten, die den innerparteilichen Alltag für lange Zeit bestimmen sollten. Sie brach daher mit jener Partei, der sie sich einst von Kindheitstagen an verbunden gefühlt hatte - und als Herta Zerna im Jahr 1988 in greisem Alter verstarb, geschah dies vereinsamt und vergessen im Stadtteil Zehlendorf von Berlin. Die Vergessenheit blieb nach ihrem Tode über ihrem Lebensweg liegen, denn bis heute gibt es in Berlin (und damit in ihrer Geburtsstadt) keine einzige Gedenktafel, die an Herta Zerna erinnert - auch nicht in der Rostocker Straße 28, ihrer einstigen Heimatadresse.


Die sehr, sehr wenigen Quellen, die zu Herta Zerna erhalten geblieben sind, zeigen noch heute das deutliche Bild einer reflektierten Frau, die mit Blick auf ihre Motivation zum Widerstand gegen den Naziterror indirekt auch auf Hannah Arendt (geb. 1906, gest. 1975) zu sprechen gekommen war - und zwar auf deren bekanntestes Diktum. Die „Banalität des Bösen“, der immer wieder kontrovers bewertete, zentrale Begriff aus dem Denken der jüdischen Autorin von „Eichmann in Jerusalem“ (1964) war von der einstigen Widerstandskämpferin mit dem gedanklichen Spiegelbild beantwortet worden, als sie als Zeitzeugin zur NS-Zeit befragt worden war: Herta Zerna hatte ihre Hilfe für verfolgte Mitmenschen unter dem Naziterror mit einem zusammenfassenden Begriff einst als „Banalität des Guten“ bezeichnet.

Nicolas Basse M. A. - Berlin, im April 2023

Literatur
Beer, Susanne: Wer half Juden im Holocaust unterzutauchen?, in: „Der Tagesspiegel“, Ausgabe vom 2. August 2019.

Kosmala, Beate: Verbotene Hilfe - Rettung für Juden in Deutschland 1941 - 1945, Bonn 2004.

Tilmann, Christina: Autorin im Zweiten Weltkrieg: Mit Rheinsbergs Stadtschreiberin auf den Spuren von Herta Zerna durch Kagar, in: „Märkische Oderzeitung“ (MOZ), Ausgabe vom 28. April 2022. [Anm.: Stefanie Oswalt ist seit Februar 2022 die 55. Stadtschreiberin von Rheinsberg und hat sich vor Ort u. a. eingehend mit dem Lebensweg von Herta Zerna befasst.]
Quellen online bzw. auf Websites
Küsel, Gudrun: „Mit dem Heldentum ist das so eine Sache...“, Publikation ohne Jahresangabe auf der Website des Deutschen Journalisten-Verbandes Berlin - Journalistenverbandes Berlin-Brandenburg e. V. (DJV Berlin - JVBB).

Website https://righteous.yadvashem.org/,Datenbank der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte „Yad Vashem“:Eintrag zu Herta Zerna.

Website https://watch-salon.blogspot.com/ des Journalistinnenbundes e. V.: Weblog-Interview „Zum 8. Mai 2020: Trotz Kriegsende nur wenig Zukunft. Würdigung der Journalistinnen Herta Zerna und Eva Siewert von Christine Olderdissen und Stefanie Oswalt“.

Website https://www.raoulwallenberg.net/ der „International Raoul Wallenberg Foundation“: Eintrag zu Herta Zerna.